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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 35.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Brüder.
Von Adolf Wilbrandt.
(Fortsetzung.)


Karl’s Platz zu ihrer Rechten war leer; Wilhelm hörte Annettens Eltern sagen, daß der Arme wegen seines Kopfleidens nach Hause gefahren sei. Betrübt starrte er auf die leere Stelle und nickte vor sich hin. Auf einmal hörte er, aus dem Nebenzimmer hervor, fröhliche Tafelmusik; die Geigen und Trompeten setzten jauchzend und schmetternd ein, und ein Chor von männlichen Stimmen erhob sich, um einzufallen. Diese unerwarteten Töne überwältigten ihn. Er fühlte, wie ihm die Thränen nach den Augen drängten, stand auf und ging hinaus. Ueber den Flur hinweg, ohne der Menschen zu achten, die ihm entgegenkamen oder sich neugierig zusammengedrängt hatten, eilte er auf die Treppe zu, die engen Stufen hinauf, um oben in ein Kämmerlein zu treten, das offen stand, und sich in den Sessel neben dem Bette zu werfen. Es war Annettens Schlafgemach; er wußte es nicht. Es that ihm nur wohl, endlich einsam zu sein und seinen Thränen ihren Lauf zu lassen. Die Musik drang nur dumpf zu ihm herauf, gedämpftes Licht kam durch die verhängten Scheiben, die kältere Luft kühlte seine Schläfen. Er weinte vor sich hin: „Dahin ist es mit euch gekommen, mit dir und ihm! und ihr liebtet euch so! Mein Gott, mein Gott, mein Gott, wie war es möglich!“ – Seinem Herzen versagte alle Freudigkeit, sein Gewissen schlug ihn, er sprang auf, ging umher, warf sich wieder hin, drückte den Kopf in Annettens Kissen und rief kummervoll von Neuem ans: „Mein Gott, wie war es nur möglich!“

Er lag dann eine Weile still; auf einmal berührte ihn eine Hand, er fuhr empor und sah in Annettens Gesicht. Das junge Weib, dessen Augen gleichfalls von stillen Schmerzen gefeuchtet waren, lächelte ihn dennoch sanft und lieblich an und fragte mit ihrer weichen Stimme: „Wo bleiben Sie, Wilhelm? Wo bleibst Du?“ wiederholte sie leicht erröthend; „warum muß man Dich suchen? Was sollen die Gäste denken – und mein Vater und meine Mutter?“

„Wo ist Karl?“ unterbrach er sie mit einer hastigen Frage.

„Er ist fort,“ antwortete sie mit Fassung. „Er hat einen Zettel an Dich und mich zurückgelassen, ein offenes Blatt. Sein Kopf halte es nicht aus, mit beim Fest zu sein. Er sagt uns Lebewohl, er denkt schon heute zu verreisen.“

„Und Du?“ sagte Wilhelm und richtete sich auf. „Hast Du – hast Du mich lieb?“ – Er sah ihr unruhig und wehmüthig in die Augen und suchte ihre Antwort zu errathen.

Annette reichte ihm still ihre Hand und nickte ihm zu. „Komm’!“ sagte sie leise. „Du weißt es –“

Wilhelm hielt ihre Hand, und plötzlich getröstet drückte er sie an die Lippen und stand wieder aufrecht da. „Meine holde, theure Frau!“ sagte er gerührt. Karl wird es verwinden, dachte er; er ist der Starke, er wird es ja bald verwinden! Alles wird noch gut, Alles wird sich noch lösen! – „Vergieb mir, Annette,“ sagte er gefaßt. „Ich habe Dich vorhin verlassen, habe geweint wie ein Kind, weil Karl uns verläßt. Er muß reisen, ich weiß es ja; er hat die Pflicht, es zu thun. Ich weiß, daß es kindisch ist, darum zu weinen. Aber wenn man sich so lieb hat, Annette, wenn man sich im ganzen Leben noch nie getrennt hat – –“

Seine Stimme erstickte wieder, und er fing heftig an wie ein Knabe zu schluchzen.

„Lieber Wilhelm!“ sagte sie erschüttert. Seine Liebe zu dem Bruder rührte sie tief; sie faßte seine Hand, sie umschlang ihn, von schwesterlicher Empfindung hingerissen, und drückte den ersten freiwilligen Kuß auf seinen Mund. Und so hielten die beiden Menschen sich in Thränen umschlungen, die in bangen verhehlten Schmerzen in die Zukunft hinaussahen.

Er fühlte ihren Kuß, ein unaussprechlich holder Balsam schien ihn zu erquicken und zu stärken. „Komm’,“ sagte er mit weicher Stimme und ließ sie aus den Armen, „komm’, gehen wir, Annette, – fahren wir bald; mir wird besser werden, wenn wir aufbrechen, wenn wir diese lustigen, jubelnden Menschen verlassen!“

Sie nickte ihm zu und wandte sich gleich, um zu gehen.

Auf der Treppe stand er noch einmal still, sah sie an und fragte: „Hast Du mich lieb, Annette?“ – Sie nickte wieder. Er lächelte zufrieden. Dann stiegen sie hinab, ohne weiter zu reden. Mit etwas erleichterter Seele ging er in den Hof hinaus und gab seine Befehle, den Wagen bereit zu machen und den Kutscher zu rufen. Er fragte nach Karl; man sagte ihm, der junge Herr habe die Stadt schon verlassen.

Nach einer Stunde rollte der Wagen mit Wilhelm und seinem jungen Weibe unter dem Thor hindurch ihrem Landsitze zu. Noch war es heller, abendlich sich röthender Tag; die gefärbten Wolken hingen tief herunter. Die Fenster zu beiden Seiten waren mit Blumenkränzen und Gewinden geschmückt; ein Postillon saß vor ihnen zu Pferd und blies auf seinem Horn die fröhlichsten Weisen in die Luft hinaus. Den Beiden klangen sie melancholisch in’s Ohr; ihre stillen Trübsale wachten wieder auf, Thränen flossen über Annettens und seine Wangen. Er suchte, ohne sie anzublicken, ihre Hand. Sie gab sie ihm willig hin, er fühlte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 545. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_545.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)