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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

humoristischen Muse, als Riesen der Wirklichkeit seien. Wir wollen deshalb, also aus literarischen, wie praktischen Gründen, einen solchen Londoner wirklichen Kummerhof genauer in Augenschein nehmen.

Es giebt deren natürlich in großer Menge und zum Theil von fabelhaftem Umfange; doch wollen wir keinen der größten besuchen und selbst das Riesengeschäft Ferguson’s im Westen Londons, des berühmten Millionärs aus Staub, unbeachtet lassen, um an einem kleineren, übersichtlicheren Nebengeschäfte dieser Art zu zeigen, was selbst mit geringen Anfängen und wirthschaftlicher Ausdauer gleichsam nebenbei aus allerhand Kummer für Gold und Freude gewonnen werden kann. Ein solches kleines, noch ziemlich neues Geschäft finden wir weit draußen im Nordosten mitten zwischen den herrlichsten Landschaften und grünen Gebüschen auf einer Halbinsel des Themsenebenflusses Lea.

Wo hier vor einigen Jahren noch liebliche Blumen dufteten, erheben sich jetzt unförmliche und durchaus nicht wie Blumen duftende Haufen, aus denen geschäftige Hände fortwährend Geld machen, während die Behörden Ost-Londons früher jährlich große Summen ausgeben mußten, nur um diese Drachensaat aus den Häusern und Höfen los zu werden. Da fiel es einem pfiffigen Bierwirth ein, sich draußen die Halbinsel mit dem Blumengarten zu kaufen, Landungsbrücken für Kähne anzulegen und für die Erlaubniß, den Kummer aus den Häusern fortzuschaffen, noch beträchtliches Geld zu bieten. Dies wurde natürlich mit Freuden angenommen, und so verwandelte sich der einsame Blumengarten in einen blühenden Kummerhof mit goldenen Früchten für eine ganze Arbeitercolonie.

Fast auf allen Straßen Londons sieht man jeden Vormittag schmutzige Karren dahinrumpeln und hört daneben weit und breit das unmelodische Dust ahoi! (Kummer her!) Das Hausmädchen oder die Hausfrau, welche nun die in der Regel sehr praktisch versteckte oder wenigstens bedeckte Müllgrube gelehrt wissen will, braucht nur einen Wink zu geben, und die beiden Männer befreien das Haus, sehr häufig durch eine ebenfalls sehr praktisch angebrachte Hinterthür, im Nu von allem Kummer und bezahlen auch bei etwaiger Concurrenz mehrerer Geschäfte noch eine Kleinigkeit dafür. Unser Bierwirth beschäftigt jetzt gegen dreißig solcher Karren, von denen manche täglich zwei Ladungen auf seinen Kummerhof bringen. Andere Lasten kommen zu Wasser. Der Hof besteht aus zwei Abtheilungen, von denen die erste Schlick von Chausseen und Straßen, die zweite den eigentlichen Kummer oder Müll, d. h. Kohlenasche, Kehricht, Küchenabfälle, allerhand Scherben von Glas, Porcellan und Töpferei mit gelegentlich dazwischen gefundenen silbernen Löffeln und goldenen Ringen und verschiedenen geltenden Münzen aufnimmt. Jeder ankommende Karren wird durch einen einfachen Mechanismus auf den Haufen gezogen und unter furchtbarer Wolkenbildung „ausgeschossen“, weshalb auch jeder Haufen ein Schuß genannt wird. Ein solches ausgeschossenes Gebirge sieht zwar nicht sehr malerisch ans, aber wir finden auf der linken Seite unserer Abbildung doch eine Ansicht des Chimborasso unseres Kummerhofes.

Die Verwandlung dieser Kummerhaufen in Geld und Geldeswerth ist zwar selbst eine sehr kummervolle, aber sehr einfache und lohnende Arbeit. Männliche Fäuste und Rücken tragen immer große Körbe voll von den Haufen zu umstehenden Vertreterinnen des schönen Geschlechts und füllen deren Siebe damit, einfache, runde Drahtsiebe mit langen, unten offenen Säcken darunter, welche blos zur Minderung des Staubes beitragen sollen. Jedes solche Sieb wird von vier Händen geschüttelt, welche ihre Arbeit so oft unterbrechen, als auf dem Siebe irgendwie dicke und werthvolle Gegenstände zum Vorschein kommen. Diese werden mit schnellem, geübtem Auge nach Rang und Werth gewürdigt und demgemäß in verschiedene umherstehende Körbe vertheilt. Aus diesen Körben wird es von Jungen auf die verschiedenen sortirten Kummerhaufen getragen, wie wir auf der rechten Seite unserer Abbildung einen bewundern können, wenn wir dazu die gehörige ästhetische Bildung haben.

Rechts im Vordergrunde erhebt sich ein Häufchen Unglück, bestehend aus alten Blechsachen und sonstigen metallischen Invaliden der Küche. Der große, alte Kasten daneben enthält allerlei Kostbarkeiten der Schneider- und Bekleidungskunst auf der ersten Stufe zu neuer Veredelung aus tiefster Erniedrigung, nämlich Lumpen, die in England, beiläufig gesagt, als solche schon einen viel höheren Werth haben, als unter uns Deutschen. Weiter im Hintergrunde auf derselben Seite machen sich die Hütten zur Aufbewahrung von allerlei Geräthschaften und dahinter ein Haufen von pflanzlichen und fleischlichen Küchenabfällen bemerklich, welche der vorn liegende, halb verhungerte Hund schon nach besten Kräften zu verwerthen sucht. Auch lassen es die Männer, Frauen und Kinder, welche hier nicht selten in ganzen Familien arbeiten, nicht an scharfer Kritik dieser Haufen gefundener Delicatessen fehlen, um Alles, was sich irgendwie noch entweder unmittelbar oder durch neue culinarische Künste in eine Macht gegen den barbarischen Hunger verwandeln läßt, gehörig zu verwerthen. Zur Erhebung aller dieser verhaßten Abfälle des Lebens aus ihrer tiefsten Erniedrigung auf die erste „unterste“ Stufe der Veredelung geben sich natürlich nur Menschen auf der niedrigsten Stufe der Bildung und des Elends her. Wenn man daher wahre Schreckens- und Jammergestalten, massenhaft verkörperten Hohn auf die gebildete Menschheit und unseren Jahrtausende langen Fortschritt in Cultur und Bildung kennen lernen will, so besuche man diese Londoner Kummerhöfe.

Wir finden hier einige Andeutungen davon. Man sehe sich diese Gestalten in Beinkleidern an. Das sind auch Männer, sogar freie Engländer; sie nennen diese Lumpen auf ihrem Körper sogar nach ihrem ehemaligen Ursprünge Hemd, Hut, Hosen etc., und selbst die Stiefeln ohne Oberleder und Sohlen heißen noch Stiefeln. Die Vertreterinnen des schönen Geschlechts sind nicht selten Kummer und Auswurf unsittlichen Freudenlebens in Sammet und Seide und nächtlicher Champagner-Orgien. Sieht dieses schlanke Weib mit noch einigen Spuren ehemaliger Schönheit und Unschuld in ihrem runzligen Schmutzgesichte nicht noch frech und herausfordernd von ihrem Müllsiebe auf den unerwarteten Besuch, wie einst in den Blüthentagen ihres nächtlichen Gewerbes? Und die Jüngere daneben hat noch ihren Forscherblick für das klingende Silber oder Gold in den Taschen ihrer ehemaligen Taugenichtse und Opfer. Die kleinen Schmutzhaufen, unter denen man halbnackte Kindergestalten verschleiert findet, sind natürlich junge Sprößlinge von Eltern, die sich meist blos immer selbst getraut haben, und verrathen deutlich, daß sie schon von der Wiege an auf den Hund gekommen sind, mit welchem sie übrigens in rührender Zärtlichkeit selbst bei großem Hunger ihre Leckerbissen theilen. Selbst ihnen können wir einen gewissen Grad von Achtung nicht versagen, wie diese ganze Müllverwerthungs-Industrie durch Umwandelung von allerhand werthlosen, schädlichen und selbst tödtlichen Stoffen in neue Werthe auf unsere Anerkennung und Nachahmung gerechten Anspruch machen kann. Diese kummervollen Familien arbeiten täglich ihre zwölf Stunden auf der niedrigsten Stufe aller Thätigkeit in jedem Wind und Wetter, in höchster Hitze und tiefster Kälte, wobei die Männer täglich fünfundzwanzig, die Frauen zwölf und die Kinder etwa fünf Silbergroschen verdienen. Das ist ein jämmerlicher Lohn, aber ohne solche Müllindustrie würden sie wahrscheinlich längst gestorben und verdorben sein oder als Verbrecher, Kranke und Elende der gesunden Gesellschaft zur Last fallen.

Die Leute arbeiten unter einem Flügel- oder vielmehr „Hügelmann“, der sie beaufsichtigt und bezahlt und dafür einen Gewinnantheil erhält, d. h. etwa sieben Silbergroschen für jeden abgeladenen Karren und alle metallischen, Glas-, Knochen- und Lumpenbestandtheile des sortirten Kummers. Derselbe wird in vier Hauptsorten getheilt: erstens Erde, d. h. die feingesiebte Asche mit allen sonstigen staubigen Bestandtheilen, welche einen sehr guten Stoff zu Backsteinen liefern. Diese werden getrocknet und dann mit einer zweiten Sorte des Mülls gebrannt, nämlich zweitens den gröberen und doch noch kleinen Bestandtheilen von Kohlen und Coaks, welche, zwischen die Steine locker geschichtet, nun von unten auf durch Luftzug in Gluth gebracht, langsam verbrennen und so die Steine gründlich härten. Daher heißt diese Sorte von Müll kurzweg draft oder Luftzug. Die dritte, der harte Kern, aus allerhand Scherben und metallischem Gerümpel bestehend, ist sehr geschätzt und willkommen für unterste Lagen bei Chausseebauten und sonstigen Wegeverbesserungen, während die vierte, der weiche Kern, nämlich allerhand pflanzliche und thierische Küchenabfälle, zu mächtigem Dünger der Felder und Marktgärten verarbeitet wird. Zu dem Müll befinden sich immer auch noch große Mengen von unverbrannten größeren und kleinen Kohlenstücken, die natürlich sehr gut brennen und verhältnißmäßig billig

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_662.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)