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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)


Mädchen saß, jagt in wüthenden Carriere an uns vorüber. Hintendrein stürzt ein ältlicher Mann, der, sich die Haare ausraufend, verzweifelnd schreit: „Ach meine arme Tochter!“ – Er und der Kutscher wechseln ein paar Worte im neapolitanischen Dialecte, – er war abgestiegen, um schnell ein Glas Wein zu trinken, und hatte, wie dies hier üblich, die Zügel auf den Sitz geworfen; – seine zwölfjährige Tochter war im Corricolo sitzen geblieben, das Pferd, durch die vielen Wagen und Fackeln erschreckt die plötzlich durchgegangen. „Oh! mia povera figlia! Sie wird vor Schrecken sterben!« so jammert der Mann. – „Oh! lo povera creatura!" schreit unser Kutscher laut und haut auf sein Pferd grimmig ein und immer: „O, das arme Geschöpf!“ jammernd, fahrt er im furchtbarsten Carriere hinab, so daß wir befürchten, in jedem Augenblick aus dem Wagen geschleudert zu werden. Endlich erreichen wir den am Wege liegenden Wagen, neben ihm steht händeringend das Mädchen. „Ist Dir Etwas geschehen?“ fragt besorgt der Kutscher. – „Nein! Nichts!“ antwortet die Kleine, „aber unser armes Pferd!“ – Sie hatte, als das Pferd durchging, mit seltener Geistesgegenwart die Zügel ergriffen und das wild gewordene Pferd noch möglichst zu lenken gesucht, war aber zuletzt in der Dunkelheit und verirrt und geblendet durch die vielen Wagen mit Fackeln, gegen einen Baumstamm gefahren und das Pferd habe sich den Kopf zerschmettert. – Die Aermste dachte nicht an sich und die überstandene Todesgefahr, sondern nur „nostro povero cavallo“, lag ihr am Herzen. Einige Schritte weiter fanden wir auch das Pferd, – zwei Männer hatten es ausgespannt und hielten es, es blutete stark aus den Nüstern. Unser Kutscher hielt, warf, eben so leichtsinnig, die Zügel auf den Sitz und untersuchte das Pferd. „Es ist nichts!“ entschied er, „es ist nur eine Quetschung, nichts gebrochen, – ein paar Tage Ruhe im Stall und kaltes Wasser;„ – so lautete sein Recept; – dann fuhren wir im Galopp nach Neapel. – Vor der Stadt suchte er eine alte Laterne ans dem Wagenkasten, deren Licht er anzündete, „denn,“ bemerkte er, „in Portici, wo er zu Hause sei, brauche man das nicht, aber in Neapel seien die Gensdarmen so penibel und wie ein Kutscher ohne Licht fahre, so werde er arretirt und müsse eine Geldbuße bezahlen“ – Nun rückte er auch mit der Hauptsache heraus: »Wie Eccellenza mit ihm und seinem Fuhrwerke zufrieden sei? – Er sei gut gefahren und habe eigentlich bei seinem Accorde viel versäumt; so habe er im Wirthshause liegen bleiben und warten müssen, und während der Zeit hätte er drei bis vier Fuhren machen und an zwanzig Francs verdienen können. Eccellenza werde ihn jedenfalls durch eine gute Bottiglia entschädigen.«

Es war elf Uhr Nachts, als wir an unsrer Wohnung am Molo ankamen, – als ich ihm seine zehn Francs zahlte, stellte er ganz dreist die Forderung, ich sollte ihm nun noch eine Bottiglia von fünf Francs geben. Ich mußte über diese naive Unverschämtheit hell auflachen, warf ihm noch fünfzig Centesimi hin und ging in’s Haus, das der Signor Portiere gleich hinter mir zuschloß, worauf sich der getäuschte Wagenlenker ebenfalls zufrieden gab und im Galopp davonfuhr. So endete diese Vesuvfahrt, deren Erlebnisse mir unvergeßlich in der Erinnerung bleiben werden.

Nachschrift. Die Eruption hat am 19. und 20. noch zugenommen und heute am 21. sind die vulcanischen Erscheinungen von einer solchen Heftigkeit, daß die ernstlichsten Befürchtungen wach werden. Dauert die Eruption noch längere Zeit fort, wie sie z. B. in 1855 während des ganzen Monats Februar fortdauerte, und bleibt die Heftigkeit des Ausbruches dieselbe, so sind nicht nur die jetzt schon bedrohten Ortschaften San Giorgio a Cremano und San Jorio, sondern auch Portici und Barra mit den Hunderten von prächtigen Villen verloren und der Lavastrom wird das Meer erreichen, wie 1794, und die Eisenbahn nach Pompeji und Eboli zerstören. Schon jetzt ist ein grenzenloser Schaden angerichtet und Hunderte haben ihr Alles verloren und stehen ohne Obdach da. Die hiesige Provinzial-Deputation hat vorläufig sechstausend Lire zur Unterstützung der Nothleidenden angewiesen und eine Sammlung ist eröffnet, die sich rasch mit Unterschriften bedeckt. Morgen Mittag halten Kronprinz Humbert und seine Gemahlin Margherita ihren feierlichen Einzug in Neapel, um hier für längere Zeit ihre Hofhaltung aufzuschlagen. Das prinzliche Paar dürfte da die schönste Gelegenheit finden, durch Erscheinen auf dem Schauplatze des Unglücks und durch reichliche Gaben und zweckmäßige Anordnungen sich bei den ziemlich mißvergnügten Neapolitanern beliebt zu machen.




Ein Schloß für etwaige Weihnachtswünsche.

Mit Abbildung.

Gewiß nur wenige unserer Leser haben niemals im Geiste sich ein Haus oder gar ein Schloß nach ihren geheimsten Wünschen aufgebaut und ausgeschmückt mit dem ganzen Ornamentikvorrath ihrer Phantasie. Welch’ ein Reichthum entschlösse sich dem Architekturmaler, wenn ihm ein Einblick in das unermeßliche Reich der Luftschlösser vergönnt würde! Welche nie dagewesene Baustile würde er da zu bewundern haben! Aber hier stehen wir leider an den Grenzen einer Unmöglichkeit: des Künstlers Auge sieht von dieser Baupracht der seligen Wünsche nicht mehr, als was er sich selbst aufbaut und was ihm irgend ein Baumeister auf dem Gebiete der Phantasie zeigt, ein Dichter etwa, der den Kindern seines Geistes zumuthet, in seinen Luftschlössern zu hausen. – Näher der lieben Wirklichkeit steht das Schloß, welches die Leser der Gartenlaube heute mit unserer Illustration als Weihnachtsgabe erhalten. Es wird sie bei ihren künftigen Luftschlösserbau- Unternehmungen wesentlich unterstützen, wie beschränkt auch die eigentliche Heimath desselben ist. Westfalen nämlich, das berühmte Land der rothen Erde, bietet den Grund und Boden, auf welchem diese Bautengruppe aus verschiedenen Zeitaltern gesucht werden kann.

Der westfälische Bauernhof, der noch heute nach altsassischer Sitte und in der Urväter Weise aufgebaut wird, ist hundertfach beschrieben und abgebildet; Westfalen ist aber auch das Land malerischer alter Edelhöfe, die zum großen Theile aus Ueberresten mittelalterlicher Constructionen und neueren, nach den Verwüstungen des dreißigjährigen Kriegs ausgeführten Bautheilen zusammengesetzt sind und für Architektur- und Landschaftsmaler die verlockendsten Motive bieten.

Außer dem glücklichen Zufall, daß in Westfalen gerade der dreißigjährige Krieg bei Weitem nicht so viel verwüstete, wie in anderen, namentlich mitteldeutschen Ländern, hat wesentlich zur Erhaltung der alten Burgen und Edelhofbauten der Umstand beigetragen, daß der Adel in den den mittelalterlichen Bauresten gefährlichsten Jahrhunderten, in der Blüthezeit der Franzosenthums-Nachäfferei in Deutschland und des allgewaltigen Zopfthums, sich in die Landeshauptstädte zog und dort Luxusbauten der Mode ausführen ließ. Jetzt ist das Umgekehrte adelige Sitte geworden: eine hochmüthige Exclusivität, stärker, als sie je früher auftrat, treibt den Adel auf’s Land zurück, und nun entstehen dort Neubauten von großen Adelssitzen, wie nur das friedensglückliche England sie in außerordentlichster Menge und Schönheit bietet. Gleichwohl können jetzt schon einzelne dieser jüngsten westfälischen Landschlösser sich den gepriesensten englischen an die Seite stellen.

Da haben wir das Schloß der Fürstenberg zu Herdringen im Herzogthum Westfalen, das in seinem neugothischen Stile einen ebenso imponirenden als entzückenden Anblick bietet; ferner das restaurirte Haus Assen, ein Schmuckstück der Renaissance, der Stammsitz der Grafen von Galen. Durch alterthümliche Pracht ausgezeichnet ist das Schloß Vornholz an der Weser, der alte Sitz der „edlen Herren“ und späteren Grafen und Fürsten zur Lippe, ein Bau aus dem sechszehnten Jahrhundert; nicht weniger ansehnlich sind die Schlösser zu Anholt, zu Herten, zu Gemen, zu Limburg an der Lenne, zu Bentheim und vor allen jene prächtige Hinnenburg, der Sitz der Grafen von der Asseburg, der von seiner stolzen Höhe im Nethethal herab mit seinen weitgestreckten Flügeln, seinen Portalen und epheuumwucherten Structuren wie ein romantischer Fürstensitz weithin die Gegend beherrscht und in blitzenden Fensterreihen noch den Strahl der Abendsonne nachglühen läßt, wenn weit umher Thäler und Fluren im Schatten liegen. Zu allen diesen Schlössern gehört nun allerdings das Schloß nicht, in dessen Besitz wir unsere Leser durch diese Weihnachtsgabe

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 811. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_811.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)