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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

und das Bewegen der Brust. Er sieht, wie ältere Schüler es ebenso machen und dafür von dem Lehrer gestreichelt werden. Nun versucht er’s auch nachzuahmen, und früher oder später gelingt es ihm ebenfalls ein a herauszubringen, wofür er vom Lehrer billig mit einem Zuckerplätzchen belohnt wird. Mitunter geht die Sache freilich etwas langsamer und erst nach vielem vergeblichen Abmühen von Seiten des Lehrers wie des Schülers gelingt’s, ein reines a zu bilden. Jetzt ist der erste große Schritt zum Sprechen gethan und es folgen nun o, u, au. Hier bleibt die Zungenlage wie beim a, und nur die Mundöffnung wird kleiner. Nun kommen die Consonanten an die Reihe. b, d, f sind leicht, aber welche Schwierigkeiten sind oftmals bei den Gaumen- und Nasenlauten, beim s und namentlich beim r zu überwinden! Und wieviel Mühe kosten wieder e und i! Geht’s mit dem einen Laute nicht, so nimmt man einen andern; oft gelingt’s hier durch einen Umweg zum Ziele zu gelangen. Das erste Articuliren wird um so schwieriger, als der kleine Taubstumme noch keinen rechten Begriff hat, wozu er das Alles lernen soll; ganz anders wird es aber, wenn er die ersten einfachen Worte sprechen lernt. Jetzt erst wird das rechte Interesse in ihm rege und jedes neue Wort begrüßt er mit Freude. Hand in Hand mit der Bildung der Articulation gehen das Lesen- und Schreibenlernen, und zwar lernt der Taubstumme zunächst nur die Schreibschrift kennen.

Da der Taubstumme scharf die Bewegungen des Mundes beobachten muß und nur dadurch die Laute von einander unterscheiden kann, so lernt er auch sehr bald die Laute vom Munde ablesen, gerade so, wie wir die Buchstaben von der Wandtafel oder vom Buche ablesen. Es ist dies eine Kunst, die ihm im Verkehr mit hörenden Menschen unentbehrlich ist, denn die Hörenden verstehen wohl, was er spricht, er aber liest ihnen die Worte vom Munde ab, weil er nicht hören kann, was sie sprechen.

Allmählich werden die Schüler weiter in die Sprache eingeführt. Es werden ihnen die einfachsten Begriffs- und Eigenschaftswörter gegeben, die sie sofort zu kleinen Sätzen verwenden. Sie lernen das Verhältniß der Dinge zu einander in Worten ausdrücken, lernen die gewöhnlichsten Bindewörter, die gebräuchlichsten Zeitwörter kennen und sind dann schon im Stande, kleine Beschreibungen von Gegenständen aller Art zu liefern. Später wird ein Lesebuch zur Hand genommen und wie bei hörenden Kindern wird laut gelesen, das Gelesene wird abgefragt und als Sprech- und Sprachstoff benutzt. Je mehr der Schüler in der Sprache vorwärts dringt, desto mehr tritt die Pantomime in den Hintergrund, bis sie in den Oberclassen fast ganz verschwindet und das gesprochene Wort allein die Grundlage des Unterrichts bildet. Dieser theilt sich nun in verschiedene Zweige, und die Schüler werden in Rechnen, Naturkunde, Heimathskunde, Religion, ganz ähnlich wie in gewöhnlichen Volksschulen, unterrichtet.

Ist nun auch in dem oder jenem deutschen Taubstummeninstitute die Lehrmethode etwas anders, in der Hauptsache fußen sie doch alle auf der Lautsprache, und das ist der große Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Schule, welch’ letztere den Taubstummen nur mit Hülfe der Pantomime und Schrift bilden zu können meint. Mehr und mehr verliert sie aber an Einfluß, und mit Recht hebt der englische Bericht die Verdienste des Director Hirsch in Rotterdam, ehemals Taubstummenlehrers in Köln, um Einführung der deutschen Methode in den Niederlanden hervor. Seinen Bemühungen ist es mit zu danken, daß auch in den belgischen Taubstummenschulen das deutsche Element zur Geltung gekommen ist, und jener junge Lehrer in der kleinen Londoner Anstalt ist von ihm als Pionnier unserer Schule nach England gesandt worden.

Freilich jenseit des Oceans, wo Alles in Siebenmeilenstiefeln vorwärts schreitet, da will man auch – die Zeitungen und Anstaltsberichte erzählen’s wenigstens – in der Taubstummensache uns um etliche Pferdelängen voraus sein. Dort gründet man „Hochschulen für Taubstumme“, wie in Washington, wo ein „Collegium für die höhere Ausbildung der Taubstummen behufs der Ertheilung collegialischer Grade“ besteht. Allerdings ein Doctor oder Professor ist in Deutschland noch aus keiner Taubstummenschule hervorgegangen, aber eben so gewiß ist es, daß es die Amerikaner in dieser Beziehung nicht weiter gebracht haben als wir, und so sinkt bei näherer Betrachtung jene amerikanische Hochschule zu einer ganz gewöhnlichen Fortbildungsschule für Taubstumme herab, wie solche auch in Deutschland mit manchen Instituten verbunden sind.

In Deutschland sind es schon hundert Jahre, seitdem man angefangen Taubstumme sprechen zu lehren, und jetzt erst folgen hierin England und Frankreich nach. Mit Stolz schreibt das englische Journal in Bezug auf die kleine, erst seit kurzer Zeit bestehende israelitische Anstalt: „Stumme reden in England!“ – während in Deutschland gegenwärtig in allen Taubstummenschulen – es giebt deren circa achtzig – die Lautsprache einen Hauptbestandtheil des Unterrichts bildet. Jetzt erst finden in dieser Angelegenheit deutsche Ideen im Auslande Eingang, und die deutsche Lehrweise bricht sich Bahn – freilich gedenkt man dabei nicht ihres Begründers, aber das ist den Ausländern nicht zu hoch anzurechnen, da man ja diesen Mann im eignen Vaterlande fast vergessen hat.

Wie sehr ehrt man in Frankreich den Abbé de l’Epée! Man hat ihm in Versailles, seinem Geburtsorte, ein prächtiges Monument errichtet, und in Prosa und Poesie verherrlicht man ihn als einen der größten Wohlthäter des menschlichen Geschlechts. Fern sei es, ihm den wohlverdienten Ruhm schmälern zu wollen; aber er hat doch die Stummen in ihrer Stummheit gelassen, er gab ihnen nur die Pantomime und die Schrift, nicht aber das gesprochene, das lebendige Wort. Das hat ihnen ein Deutscher gegeben und damit die gewaltige Kluft überbrückt, welche die Taubstummen von den Hörenden trennt. Wer aber nennt bei uns seinen Namen? In Frankreich wissen Millionen von dem edeln Abbé de l’Epée zu erzählen, in Deutschland wird Samuel Heinicke nur von einigen hundert Taubstummenlehrern gekannt. –

Und gerade jetzt, zu Anfange 1869, sind es hundert Jahre, daß Samuel Heinicke in Eppendorf bei Hamburg die Hand an’s große Werk legte und sich dauernd mit der Erziehung und Bildung taubstummer Kinder befaßte. –

Daß aber das deutsche Volk jenes Mannes nicht vergesse, der vor hundert Jahren die Stummen reden lehrte, dafür wird die Gartenlaube sorgen und in einer der nächsten Nummern von Samuel Heinicke erzählen. Der Mann ist werth, daß ihn sein Volk recht genau kennen lernt, um ihn ganz nach seinem Verdienst zu ehren. –

E. Stötzner.     




Casanova und Hagenbeck.


Auch in früheren Jahren hat man hin und wieder Gelegenheit gehabt, ausländische Thiere lebend bei uns zu sehen, sei es durch Vermittlung jener Sorte „wandernder Künstler“, welche mit Affen, Bären, Kameelen, Wölfen oder Hyänen auf den Messen und Jahrmärkten umherzogen oder – schon beachtenswerther – in mehr oder minder großartigen Menagerien, von denen die van Aken-Kreuzberg’sche, die von Renz, Scholz u. A. allgemein bekannt geworden sind. Aber erst seitdem die mit Recht überall beliebten „Thiergärten“ (welche die Deutschen gar zu gern „Zoologische Gärten“ nennen) eine größere Ausdehnung gewonnen haben, mehrt sich die Zufuhr fremder lebender Thiere aus allen Weltgegenden in großartigster Weise, und oft ist es in der That bewundernswerth, daß es hat gelingen können, Thiere aus entlegenen Himmelsstrichen, die ihrer ganzen Natur nach mit ihrer heimathlichen Umgebung auf’s Innigste zusammenhängen, nicht nur in die Gewalt der unternehmenden Jäger oder Thierhändler zu bringen, sondern auch sie zu transportieren und Jahre lang mit neu angepaßter Kost und unter fremden klimatischen Verhältnissen am Leben zu erhalten. Der Besucher eines Thiergartens sieht neben einander Eisbären, Paviane, Elephanten, Giraffen, Ameisenbären, Elenthiere, Waschbären, Känguruhs, und es kommt ihm kaum mehr in den Sinn, daß jedes dieser Thiere mit der überlegtesten Sorgfalt und Vorsicht von seiner früheren Umgebung getrennt und neuen Verhältnissen angepaßt worden ist, wie er auch schon längst nicht mehr daran denkt, durch wie viele Hände und aus wie entlegenen Gegenden diejenigen Stoffe herbeigeschafft worden sind, deren er täglich zu seiner Erhaltung und Bequemlichkeit bedarf.

Unter denen, welche mit Ueberwindung persönlicher Gefahren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_042.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2020)