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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

worden, sei eine sehr unglückliche gewesen, und die junge Gräfin habe keine Ursache gehabt, den entsetzlichen Sturz mit dem Pferde zu beweinen, in Folge dessen ihr Gemahl nach zehnjähriger Ehe starb. Die Gräfin hatte drei Kinder geboren, von denen nur das jüngste, die kleine Gisela, am Leben blieb.… Zu derselben Zeit, wo Graf Sturm aus der Welt ging, wurde Baron Fleury fürstlich A.’scher Minister. Man munkelte ferner, Seine Excellenz habe bereits zu Lebzeiten des Gemahls eine heimliche Neigung für die schöne Gräfin gehabt, und diese Behauptung wurde insofern bestätigt, als der Baron nach Ablauf des Trauerjahres um die Hand der Wittwe warb und sie auch erhielt. Die boshafte Welt flüsterte freilich, diese Bevorzugung verdanke er weniger seinen persönlichen Eigenschaften, als seinem Einfluß am Hofe zu A., mittels dessen sich die Gräfin Völdern den Zutritt habe wiederverschaffen wollen; denn, einmal als die Freundin des Prinzen Heinrich, und später erst recht als dessen beglückte Universalerbin, hatte sie lange in Bann und Acht leben müssen.… Sie erreichte übrigens durch die zweite Heirath der Tochter ihren Zweck vollkommen, und die Zeit, wo sie am A.’schen Hofe wieder erscheinen durfte, galt noch in späteren Jahren in den Augen der Hofschranzen für „eine himmlische“.

Sie hatte einen niegesehenen Glanz um sich verbreitet durch ihre noch immer bezaubernde Erscheinung und ihre Reichthümer, die sie mit vollen Händen ausstreute, um den schlüpfrigen Boden unter ihren Füßen zu befestigen.… Diese Triumphe genoß sie indeß nicht lange. Die Baronin Fleury starb, nachdem sie einen todten Knaben geboren, im Wochenbett, und drei Jahre später verschied die Gräfin Völdern – „leicht und selig wie eine Gerechte“ – sagte der Volksmund und mit ihm Sievert. Sie war nur zwei Tage krank gewesen, hatte, als gläubige Katholikin, regelrecht, in aller Form die letzte Oelung empfangen und war hinübergeschlummert mit einem fast kinderhaft unschuldigen Lächeln, und von nah und fern kamen die Leute, um das engelschöne Wachsbild im Sarge zu sehen, die Frau, die so viel gesündigt und nie – gelitten hatte.… Die fünfjährige, nun völlig verwais’te Gräfin Gisela blieb im Hause ihres Stiefvaters und war alleinige Erbin der sämmtlichen gräflich Völdern’schen Besitzungen, mit Ausnahme von Arnsberg, das sich schon längst nicht mehr im Besitz der Gräfin Völdern befand. Zum großen Erstaunen der Welt hatte nämlich die Universalerbin wenige Monate nach Antritt ihrer Erbschaft das Schloß mit dem dazu gehörigen Areal an Wald und Feld dem ihr damals noch völlig fernstehenden Baron Fleury um die Summe von dreißigtausend Thalern, und zwar unter dem allgemein belächelten, sehr empfindsam klingenden Vorwande verkauft, daß ihr diese Besitzung als der Sterbeort ihres Freundes, des Prinzen, allzu schmerzliche Erinnerungen wecke.

Das reichsgräfliche Kind erschien demnach auf seiner Flucht vor dem Nervenfieber nicht als Herrin, sondern als Gast des Stiefvaters in Schloß Arnsberg. Letzterer hatte übrigens Sievert’s Voraussetzung nicht wahr gemacht; nach nur zweitägigem Aufenthalt war er abgereist, um sich zu seinem Fürsten zu begeben, der fern von A. auf einem Jagdschlosse verweilte.… Jutta hatte den Minister nicht wiedergesehen. Am Tage nach dem Hinscheiden der Blinden war Frau von Herbeck in das Waldhaus gekommen, um im Namen Seiner Excellenz zu condoliren, und das prachtvolle Bouquet, das bei der Beerdigung zu Füßen der Todten lag, stammte aus dem Arnsberger Treibhause – wer der Unglücklichen in ihren letzten Lebensstunden hätte sagen sollen, daß ein Blumengeschenk von seiner Hand mit ihr in ein und demselben Todtenschrein modern würde!…

Inzwischen war das Weihnachtsfest herangekommen. Im klingenden Eispanzer, den Saum des schwer nachschleppenden Schneemantels bis an die Fenstersimse der niedrigen Bauernhütten werfend, schritt es über den Thüringer Wald hin; froststarre Thränen hingen an seinen Wimpern, und das Wehen seines Athems scheuchte alles warme Leben hinter die schützenden Thüren und Mauern; aber die Tannenkrone über seinem lieben Heiligengesicht blitzte wie ein Königsdiadem – die kalte Wintersonne stand unverhüllt am klarblauen Himmel und weckte bleiche Funken in jedem Eiszapfen – und mit bezeichnendem Finger streifte es hie und da über eine einzelne junge Fichte im Schlag; sie stand da und träumte im dämmernden Winterschlaf von Wachsen und Großwerden, von der Zeit, wo ihr schlanker Stamm sich hoch in die blauen Lüfte hinaufrecken und mit seiner Spitze an die goldenen Sterne rühren würde, von den purpurnen Blüthen, die dereinst droben zwischen den Aesten aufglühen und, vom Sonnenlicht umkost, ihre hochgetragene Schönheit in die weite, weite Welt hinausleuchten sollten – und sie erwacht plötzlich, von milder, warmer Luft geweckt; ihr kleiner Wipfel ragt nicht in den Himmel, und die rothen Blüthen schlummern unerschlossen weiter, wohl aber sind die Sterne von droben herabgesunken und flammen auf den kleinen Zweigen, und das arme, erschrockene Fichtenbäumlein ist selbst zur Blume geworden, zur strahlenden Wunderblume des Winters – o, du süße, selige Weihnachtszeit! …

Auch auf dem blühenden Gesicht der Pfarrerin von Neuenfeld lag es wie klarer Sonnenschein. Diese etwas derben, aber sehr regelmäßigen Züge trugen zwar immer das köstliche Gepräge ungetrübter, fast schelmischer Heiterkeit; allein jetzt lachte auch etwas wie verheimlichte Freude heraus. Die Frau hatte ja sieben Kinder, und diese sieben abgöttisch geliebten Blondköpfchen sollte sie in glückseliger Ueberraschung unter dem Weihnachtsbaum sehen.… Es war diesmal keine leichte Aufgabe gewesen, die Christbescheerung zu beschaffen – die Kartoffeln waren nicht gerathen, und der Herr Pfarrer hatte einen neuen Winterrock absolut nöthig gehabt – indeß, ein viermaliger Gänsebraten auf dem Tisch eines armen Thüringer Landgeistlichen war sündhafter Luxus, und deshalb ließ die Pfarrerin drei Stück ihrer vier fetten, wohlgerathenen Gänse leichten Herzens gen A. ziehen, wo sie gut bezahlt wurden. Die einzige Kuh im Stalle des Pfarrhauses lieferte zwar nach wie vor dasselbe Quantum Milch; dennoch kam jetzt wöchentlich ein Pfund der berühmten Neuenfelder „Pfarrbutter“ mehr auf den Markt; die Pastorin aß seit Monaten ihr Frühstücksbrod und die Abendkartoffeln nur mit Salz, und Rosamunde, die alte Magd, übte sich tapfer mit bei diesem Enthaltungssystem. Und endlich kam der Tag, wo die mühsam ersparten Groschen und Pfennige in Gestalt von verschiedenen Paketen nach dem Pfarrhause zurückwanderten. Während die alte, halberfrorene Botenfrau hinter der verriegelten Küchenthür mit verklommenen Fingern Stück um Stück der weit hergeschleppten Schätze aus ihrem Tragkorb holte, kauerten drei kleine Mädchen mäuschenstill draußen auf der uralten, ausgehöhlten Schwelle. Die dicken Blondzöpfe fest an die Thürritzen gedrückt, und ihre kleinen frierenden Hände unter die Schürze steckend, horchten sie nach echter Evaweise, indeß drei wilde Jungen, das Erfolglose des Schlüssellochguckens endlich einsehend, den Genuß der beharrlichen Schwestern durch Zupfen an den Kleidern und Zöpfen zu verkümmern suchten. Da fiel ein Etwas mit leise schmetterndem Geräusch auf den Backsteinfußboden der Küche und rollte weiter – „eine Nuß!“ jubelte der Chor selbstverrätherisch auf, und die Pfarrerin öffnete leise lachend ein Paket und hielt es geräuschlos an die Thürspalte – ach, Pfefferkuchen! – wo wäre eine Kinderseele, die sein Duft nicht sofort in die Welt der Weihnachtswunder versenkte!

(Fortsetzung folgt.)


Der Berliner Omnibus.

Skizze aus dem Verkehrsleben von Robert Springer.

In der endlosen Sündfluth, welche zwischen den steinernen Mauern der jungen Weltstadt Berlin dahinströmt und ein Gewimmel und Gekrabbel von rasselnden Fahrzeugen und tobenden Menschen in Bewegung setzt, sieht man von Zeit zu Zeit ein großes kastenartiges Gefährt, einer Arche Noah nicht unähnlich, sich in mäßigem Tempo fortbewegen. Nicht selten auch erblickt man ein Menschenkind, ein Männlein oder Fräulein, welches mit ängstlicher Hast, winkend und rufend, dieser Arche nacheilt und der Gefahr, in der großstädtischen Sündfluth zu ertrinken, entrinnen will. Und dann reicht Vater Noah, der auf dem Hinterdeck

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_052.jpg&oldid=- (Version vom 5.2.2020)