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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 5.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung)


Von diesem fröhlichen geheimnißvollen Treiben im unteren Stockwerk wurde Jutta nicht im Entferntesten berührt. Sie kam nur zur Tischzeit in die Familienstube. Das neue schwarze Wollkleid mit dem Kreppstreifen um den Halsausschnitt fiel in weichen Falten, eine lange Schleppe bildend, auf den Boden nieder und verlieh der Gestalt, die plötzlich sehr beherrschte, hoheitsvolle Bewegungen angenommen hatte, eine Art von stiller Majestät. Dieser Eindruck wurde erhöht durch das lilienweiße Gesicht mit den meist festgeschlossenen Lippen – die reizenden Grübchen, die das Lächeln in den Wangen des jungen Mädchens vertiefte, hatten die Bewohner des Pfarrhauses noch nicht gesehen – und die Sorgfalt, mit welcher ihre zarten, leuchtendweißen Hände den nachschleppenden Kleidersaum beim Eintritt in die Wohnstube aufnahmen, galt nicht allein dem sandbestreuten Fußboden, es war zugleich ein zwar graciös, aber auch sehr bestimmt ausgedrücktes „Rühr mich nicht an!“ für die Kinderschaar. Die Kleinen blickten denn auch verschüchtert nach dem stummen, ernsten Tischgast hinüber, das lustige Geklapper der Löffel und Gabeln klang gemäßigter, und die allzeit rührigen Mäulchen schwiegen gedrückt und verlegen.

Der Pfarrer ehrte Jutta’s „tiefe, wortlose Trauer“, er begegnete ihr um deswillen mit erhöhter Achtung und Rücksicht; der Blick einer Frau und Mutter dagegen ist schärfer – die Pfarrerin sah oft verstohlen und prüfend von ihrem Teller auf – das war nicht Seelenschmerz, was dem Gesicht dort das Gepräge vornehmer Unnahbarkeit aufdrückte und den Blick der jungen Dame eisig kalt und theilnahmlos über die doch gewiß unwiderstehliche Lieblichkeit der kleinen, blonden Lieblinge hingleiten ließ; die „stille, wortlose Trauer“ flieht auch bang und scheu jedes lautere Geräusch – Jutta aber hatte bereits ihre Clavierübungen wieder aufgenommen und „raste“ oft stundenlang über die Tasten. Indeß, der echte brave Frauencharakter sucht stets nach einem Entschuldigungsgrund für mißfällige Wahrnehmungen am eigenen Geschlecht, und demgemäß folgerte die Pfarrerin, Jutta sei verzeihlicher Weise verstimmt, weil sie den Bräutigam fast gar nicht sehen durfte. Der junge Berthold schwebte noch zwischen Leben und Tod, und wenn auch Sievert die Pflege mit übernommen hatte und Tag und Nacht nicht aus dem Hüttenhause wich, so hielt doch die Besorgniß, den Ansteckungsstoff weiter zu tragen, den Hüttenmeister von häufigen Besuchen in der Pfarre zurück – er war bis jetzt nur ein Mal gekommen, allein erst, nachdem er in der Gießerei den Anzug gewechselt und stundenlang im Freien umhergelaufen war.

Dagegen suchte Frau von Herbeck in Begleitung des gräflichen Kindes fast täglich die Trauernde in der Eckstube auf. Im unteren Stockwerk kehrte sie nie ein, aber sie erlaubte der kleinen Gisela, wenn auch nur für Augenblicke, hie und da in die Kinderstube zu gehen, während sie in unermüdlicher Plauderei bis zur einbrechenden Nacht bei Jutta saß.

Nun war der heilige Abend da. Die harten, unvermischten Farbentöne, die den klaren Wintertag charakterisiren, rannen allmählich in das matte Grau der Dämmerung zusammen. Es war sehr kalt; der lebendige Athem wurde zur Dampfsäule in der strengen Luft, und der hartgefrorene Schnee krachte unter den Wagenrädern und Menschentritten. Trotzdem war Frau von Herbeck mit der kleinen Gräfin in die Pfarre gekommen – Gisela wollte den Christbaum brennen sehen; der ihrige sollte erst am morgenden Feiertag angezündet werden.

Im kleinen, eisernen Ofen des Eckstübchens trommelte und brauste ein wohlunterhaltenes Feuer. Einige Körnchen feinen Räucherpulvers lösten sich auf der heißen Platte, und ihre Duftwölkchen mischten sich mit dem starten Aroma, das aus der auf dem Sophatisch stehenden kleinen Kaffeemaschine strömte. Noch brannte kein Licht. Die dichten Kattunvorhänge ließen den letzten ungewissen Schein des vergehenden Tages nur als schmalen, bleichen Streifen auf die Dielen fallen, während an den Wänden hin tiefe Schatten huschten. Aber aus dem Zugloch und der schlechtverschlossenen Thür des Ofens floß ein intensiver Gluthschein und hauchte röthliche Tinten auf das elegante Clavier und das weiße Atlasgewand des darüber hängenden mütterlichen Bildes. Ein traulicherer Raum, als diese in Winterluft und Abendschatten hineinragende Ecke, ließ sich wohl nicht denken.

Die kleine Gisela kniete auf einem Stuhl am Fenster. Sie konnte noch nicht in die Kinderstube, weil die Kleinen gebadet wurden. Einstweilen begnügte sie sich, einen hungrigen Raben zu beobachten, der auf einem nahen Birnbaum umherhüpfte und mit seinen schwarzen, hängenden Flügeln ganze Schneeladungen von den Aesten stieß. Auf dem kleinen, unschönen Gesicht lag jedoch keineswegs jenes oberflächliche Interesse, mit dem das gewöhnliche Kinderauge lediglich der raschen Beweglichkeit eines Vogels folgt. Dieser junge Kopf barg unverkennbar den Keim zur nachdenklichen Grübelei, zu jenem Insichversenken, das mit leidenschaftlicher Hartnäckigkeit dem Ursprung und Ausgangspunkt aller Dinge nachgeht und dabei für Momente alle Beziehung zur Außenwelt verliert.

Die Kleine mit dem tiefnachdenklichen Blick hörte demnach sicher

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_065.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)