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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 7.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung)



„Mann, Sie kommen aus dem Hause, wo ein Typhuskranker liegt?“ schrie Frau von Herbeck entrüstet auf, indem sie sich schützend vor die kleine Gräfin stellte und ihr Battisttaschentuch an den Mund hielt.

„Ach, machen Sie doch keine Geschichten!“ entgegnete Sievert fast knurrend und streckte mit einer sehr wenig respectvollen Bewegung seine knochige Hand nach der bebenden Gouvernante aus. „Es geht noch lange nicht an ihr Leben! … Der Hüttenmeister leidet schon gar nicht, daß Einer so mir nichts, Dir nichts in’s Pfarrhaus geht. Hab’ mich in der Gießerei erst stundenlang ausräuchern und auslüften müssen – obwohl das, so zu sagen, eine Dummheit ist – denn der Doctor hat zehn Mal gesagt, daß die Krankheit jetzt noch gar nicht ansteckt!“

Er wendete sich wieder zu Jutta. „Also ich soll ihnen ausrichten, es wär’ heute nichts mit dem Hierherkommen und der Bescheerung, weil’s unser Student eben – just in dem Moment – mit dem Sterben zu thun hat.“ Bei den letzten Worten klang die rauhe Stimme fast grell, unter dem sichtlichen Bemühen, das Brechen derselben zu verhindern.

„O Gott, der Aermste!“ rief Jutta; es blieb zweifelhaft, wen sie meinte, den Sterbenden oder ihren Bräutigam; aber fast schien es, als begreife sie, daß dies doch nicht der schickliche Moment sei, den eigenmächtigen Schritt auszuführen, den sie vorhatte – unwillkürlich wandte sich ihr Fuß, wieder treppauf zu steigen. Frau von Herbeck ergriff plötzlich ihre Hand und hielt sie fest wie unter einem Schraubstock.

„Das ist ein sehr beklagenswertes Ereigniß!“ sagte sie, und der Ton inniger Theilnahme gelang ihr vortrefflich. „Ich fühle die doppelte Verpflichtung, Sie in diesen traurigen Augenblicken nicht allein zu lassen. Kommen Sie, liebes Kind – wir dürfen auch Gisela nicht so unverantwortlich lange dem abscheulichen Zugwind hier aussetzen.“

Jutta verließ die letzte Treppenstufe.

„Sagen Sie dem Hüttenmeister, daß ich sehr unglücklich sei,“ wendete sie sich an Sievert. „Ich gehe für einige Tage nach Arnsberg und –“

„Sie gehen nach Arnsberg?“ rief er und griff an seinen Kopf, als sei ihm das Gehörte unfaßlich.

„Und warum nicht, Mann?“ frug Frau von Herbeck eisig kalt, mit jenem Ausdruck feudalen Uebergewichts, der sofort jedwede ungelegene Antwort verstummen machen will. Das imponirte indeß dem alten, verbitterten Soldaten sehr wenig. Er stieß ein rauhes Hohngelächter aus. „Nach Schloß Arnsberg, das dem Baron Fleury gehört?“ wiederholte er.

Frau von Herbeck warf einen Blick nach der Hausthür. Dort stand der Lakai unbeweglich mit abgezogenem Hut, und draußen kauerte der pelzumhüllte Kutscher auf dem Bock – sie mußten jedes Wort hören.

„Ich muß Sie dringend bitten, liebste Fräulein von Zweiflingen, dies eigentümliche Zwiegespräch abzukürzen,“ sagte sie malitiös, wenn auch mit sehr unruhig flackernden Augen. „Ich verstehe nicht, was der Mann will! –“

„Ich weiß es!' unterbrach Jutta die Dame tief erbittert, indem sie sich hoch und stolz aufrichtete. „Hofmeistern will er mich! … Er vergißt nur zu gern seine Stellung und macht sich stets der empörendsten Uebergriffe schuldig. … Aber ich sage ihnen, Sievert,“ wandte sie sich in unsäglich verächtlichem Ton und bebend vor Entrüstung an den alten Mann, „die Zeiten sind vorüber, wo Sie sich unterstehen durften, mir und meiner armen Mama ihre sogenannten Wahrheiten in’s Gesicht zu sagen und uns das Leben so unbeschreiblich schwer zu machen. … Wenn auch Mama in ihrem leidenden Zustand diese ewigen Widersprüche und Ungeschliffenheiten geduldig hingenommen hat, so war das ihre Sache – ich aber verbitte mir ihre Bevormundung hiermit für alle Zeiten!“

Damit rauschte sie weiter, aber noch einmal, und zwar mit einem unnachahmlichen Gemisch von Grazie und hocharistokratischer Würde wandte sie den Kopf zurück – sie war offenbar zum Befehlen geboren.

„Sagen Sie ihrer Herrschaft, daß ich für die Feiertage Frau von Herbeck’s Gast sein würde!“ rief sie der wortlos dastehenden Rosamunde zu, dann schritt sie mit einem leichten Kopfneigen an dem sich verbeugenden Lakaien vorüber und bestieg den Schlitten, in welchem Frau von Herbeck und die kleine Gräfin bereits Platz genommen hatten. Er flog pfeilgeschwind in die Nacht hinein – es war eine nur kurze, ebene Strecke, die er zu durchmessen hatte, und doch fuhr er über eine unausfüllbare Kluft; die Furchen, die er im Schnee zurückließ, waren die einzige und letzte Verbindung zwischen Schloß und Pfarrhaus.

Sievert war sprachlos am Fuß der Treppe stehen gebliebenen;

erst das Schellengeklingel des davonsausenden Schlittens weckte ihn aus der Erstarrung, mit welcher er der dahinschwebenden jungen Dame nachgesehen hatte. Nun aber rannte er hinaus in das Dunkel. „Undank, Undank!“ murmelte er und streckte die geballten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_097.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)