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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Schlaf und Traum.
Von Ewald Hecker.
Ursache des Schlafes. – Der Schlaf ein Finanzminister. – Die Luxusausgaben unseres Organismus. – Aufhören der Sinnesthätigkeiten. – Das „Einnicken“. – Beschränkte Leistungsfähigkeit des Gehirns. – Das Träumen. – Traumcombinationen. – Sinneseindrücke. – Der Traum als Liebesbote. – Das Alpdrücken. – Fallen und Fliegen im Traume. – Undeutlichkeit der Traumbilder. – „Traumloser“ Schlaf. – Vergehen im Schlafe. – Traum im Traum. – Schlaflosigkeit. – Schlafmittel.

Seit alter Zeit sind Schlaf und Traum von Philosophen und Naturforschern mit vorwiegendem Interesse behandelt worden, und es muß daher um so mehr auffallen, daß bis ganz vor Kurzem noch eine der wichtigste Fragen in diesem Thema, die nach der eigenen Ursache des Schlafes und dem Grunde seiner periodischen Wiederkehr, nur sehr unvollkommen beantwortet werden konnte. Erst vor zwei Jahren ist es dem Münchener Professor Pettenkofer (demselben, der sich durch Erforschung der Ursachen der Cholera auch in weiteren Kreisen einen Namen erworben hat) bei Gelegenheit seiner Versuche über den Gasaustausch im menschlichen Organismus gelungen, unsere Frage völlig befriedigend zu lösen.

Es ist schon lange bekannt, daß der durch die Athmung aufgenommene Sauerstoff für den Stoffwechsel unseres Organismus eine sehr hervorragende Rolle spielt, in der Art, daß durch seine Verbindung mit den Bestandtheilen unseres Körpers die Lebenskräfte in demselben erzeugt werden. Zu jedem kleinsten Lebensvorgange, den wir leisten, wird ein gewisses Quantum an Sauerstoff verbraucht. Er ist gewissermaßen die Dampfkraft, die unsere Lebensmaschine treibt. Die Menge des verbrauchten Sauerstoffes können wir messen durch die Quantität der durch seine Einwirkung erzeugten und ausgeathmeten Kohlesäure. Derartige Messungen hat nun Pettenkoser in Gemeinschaft mit Voit in einem besonders dazu construirten großen Apparate angestellt und dabei die unerwartete Thatsache entdeckt: „daß wir im Laufe des Tages selbst bei geringer Arbeitsanstrengung verhältnißmäßig viel mehr Kohlensäure ausscheiden, also mit anderen Worten viel mehr Sauerstoff verbrauchen, als wir in derselben Zeit aufnehmen.“

Natürlich knüpfte sich an diese auffallende Thatsache sofort die wichtige Frage: „Aus welchen Mitteln wird dieses im Laufe jedes Tages entstehende Sauerstoff-Deficit gedeckt?“ – Auch hierüber geben Pettenkofer’s Versuche vollständigen Aufschluß: der Schlaf ist der kluge Finanzminister, der allnächtlich durch weise Sparsamkeit das Sauerstoff-Deficit jedes Tages wieder ausgleicht. Denn im Schlafe verbrauchen wir nicht allein nur halb soviel Sauerstoff wie am Tage, sondern wir nehmen auch davon fast doppelt so viel auf als im wachen Zustande.

Während des Schlafes findet also im Organismus eine Aufspeicherung von Sauerstoff statt zu einem Vorrath, mit dem wir dem Deficit des nächsten Tages getrost entgegensehen können. Ist diese Einrichtung nicht wahrhaft bewunderungswürdig? Wie mancher Staat könnte sich glücklich preisen, wenn sein Finanzminister solche Wirthschaft verstünde! Ja, wir sehen es auch hier wiederum: die Natur ist in allen Dingen die beste Lehrmeisterin, und wollen uns denn einmal vom Schlafe einen Vortrag über National-Oekonomie halten lassen!

Schon vorher stellten wir beiläufig den Satz auf, daß wir zu jedem auch noch so kleinen Lebensvorgange unseres Organismus eine gewisse Quantität Sauerstoff verbrauchen. Jede Bewegung, jede Empfindung, selbst jeder Gedanke ist ein solcher Lebensvorgang. Wenn wir also einem Freunde die Hand reichen, wenn wir unsern Blick zärtlich auf Jemand richten, wenn wir lebhaft an Jemand denken, – ja, und wenn gar unser Herz dabei anfängt, schneller zu schlagen, so erleiden wir dabei immer einen bestimmten Verlust an Sauerstoff, der eine gewisse Quantität unserer Körpermasse verzehrt und in Kohlensäure umsetzt. Diese Auffassung klingt entsetzlich materiell; dennoch ist sie vollständig richtig, wenigstens giebt die Oekonomie unseres Körpers hierfür den beste Beweis. Der Körper hat während des Schlafes die Aufgabe, Sauerstoff zu sparen, und diese Aufgabe erfüllt er nun, wie ein rechtschaffener Hausvater, in der Weise, daß er alle unnützen, alle Luxus-Ausgaben vermeidet und sich nur auf das zu seinem Unterhalt Allernothwendigste beschränkt.

Welches sind aber die Luxus-Ausgaben unseres Organismus? Vor allen Dingen müssen wir dazu das ganze Gebiet der Sinnesthätigkeiten rechnen, da dieselben zur Erhaltung des Lebens nicht unumgänglich nothwendig sind. Es kann also im Schlafe getrost der für das Sehen angesetzte Ausgabe-Etat gestrichen werden. Zuerst versagen die Augenmuskeln ihren Dienst. Eine eigenthümliche Empfindung von Druck und Schwere im oberen Augenlide kündigt uns die sich vorbereitende Erschlaffung des Lidhebers an, und die Unmöglichkeit, einen Gegenstand fest in’s Auge zu fassen, den Blick zu fixiren, verräth uns, daß die Muskeln, welche die Convergenz der Sehachsen veranlassen, ihre Schuldigkeit nicht mehr thun können. Unser Blick starrt deshalb in’s Blaue. Mit dem Zufallen der Augenlider hört endlich jede Erregung der Netzhaut auf, und auch der Augennerv kommt zur Ruhe.

Das nächste Organ, welches während des Einschlafens seine Thätigkeit einstellt, sind die Ohren. Dieselben besitzen keinen Verschlußapparat wie die Augen; ihnen wird deshalb auch das Einschlafen nicht so leicht gemacht. Hier muß sich gewissermaßen der Schlaf sein Recht erst erkämpfen. Am besten kann man darüber an sich selbst Studien machen, wenn man das Unglück (oder soll ich sagen das Glück) hat, bei einem langweiligen Vortrage oder einer Predigt einzuschlafen. Nachdem wir allmählich den Faden des Zusammenhanges verloren haben und auch unsere Augen schon die wohlverdiente Ruhe genießen, hören wir noch immer die Worte an unser Ohr schallen. Wir sind aber nicht mehr im Stande, dieselben richtig zu fassen und zu verstehen. Sie werden immer verworrener und lösen sich schließlich in ein dumpfes, unarticulirtes Gemurmel auf, das scheinbar immer weiter – immer weiter sich von uns entfernt und schließlich ganz für uns verschwindet.

Während dessen fängt auch das Hautgefühl an, seinen Dienst aufzukündigen. Vergebens bemüht sich unser freundlicher Nachbar, uns durch leises Anstoßen, Treten auf den Fuß etc. vor der ärgerlichen Scene des Einschlafens zu bewahren. Es ist umsonst! Unser Gefühl ist, wenn auch nicht ganz geschwunden so doch derart erheblich herabgesetzt, daß es nur auf stärkere Reize regelrecht reagirt. Auch Geruch und Geschmack hören auf, thätig zu sein – und so sind wir denn aller unserer fünf Sinne so ziemlich bar.

Endlich erschlaffen auch die willkürlichen Muskeln. Wenn wir liegend im bequemen Bette einschlafen, kommt uns das nicht völlig zum Bewußtsein. Die besten Studien machen wir auch hierüber während eines langweiligen Vortrages, bei dem wir sitzend einschlafen müssen. Wer hat sich da nicht schon über seine impertinenten Nackenmuskeln geärgert, die plötzlich ihren Dienst versagen und den Kopf durchaus nicht mehr aufrecht tragen wollen. So lange noch der Kampf zwischen Schlafen und Wachen geführt wird, entsteht dadurch das für den boshaften Zuschauer so höchst ergötzliche und verrätherische Nicken des Kopfes. Daher das sogenannte „Einnicken“.

Somit hat nun unser Körper als sparsamer Hausvater seine Schuldigkeit gethan und den Etat für Vergnügungs- und Luxus-Ausgaben vollständig gestrichen. Aber damit noch nicht genug, setzt er auch noch den Etat für Ernährung der Körpergewebe und für Stoffwechsel erheblich herab. Das Herz vermindert seine Bewegung in der Minute um drei bis zehn Schläge, das Blut kommt also seltener mit den Körpergeweben in Berührung und giebt daher auch weniger Sauerstoff an dieselben ab. Dadurch wird natürlich die Function sämmtlicher Körperorgane zum Theil nicht unerheblich beschränkt; vor allen Dingen leidet darunter ein sehr wichtiges Organ, das Gehirn. Und darüber müssen wir ausführlicher sprechen.

Das Gehirn ist dasjenige Organ, in dem sich unsere geistigen Functionen vollziehen. Gleichviel, ob wir der materialistischen oder der spiritualistischen Anschauung huldigen, immer müssen wir den Satz festhalten, daß alle Seelen- und Geistesthätigkeit unveräußerlich an das Gehirn geknüpft ist. Das Gehirn ist gewissermaßen das Instrument, durch welches unsere Seele ihre Thätigkeit äußert. Und wie selbst der fertigste Spieler auf einem unvollkommenen

musikalischen Instrumente nur unvollkommene musikalische Productionen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_136.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)