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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


Aus der Wandermappe der Gartenlaube.[1]

Nr. 1. Auf dem Zillerthaler Eismeere.
I.

Wenn ich so die Berge sehe,
Wie sie kühn und frei sich heben,
Zu der dunkelblauen Höhe
Stolz und sturmverachtend streben,

Möcht’ ich oft die Wolken fragen,
Die ihr eisig Haupt umspielen,
Was die Thäler unten sagen,
Ob sie auch so frei sich fühlen.


Dort, wo im Süden Innsbruck’s der Sillfluß einen tiefen Einschnitt in die gewaltige Schiefermasse des mittleren Tirols bildet, erhebt sich im Osten, aus breiter Basis aufsteigend, die mächtige, in sich abgeschlossene eisgekrönte Zillerthaler Gebirgsgruppe, eine herrliche ungeahnte Welt mitten zwischen reichbevölkerten und bebauten Culturlanden. Ueppige weiche Formen, in Wiese, Wald und Ackerland wechselnd, umrahmen das schimmernde Bild, und mächtige Felskämme und Grate in wunderbaren Verzweigungen vermitteln den Uebergang von einem zum andern. Ein eigenthümlicher Duft und unnennbarer Reiz ist über dieses Eldorado der tirolischen Hochgebirgswelt ausgegossen, und wem es einmal gegönnt ist, von der Höhe aus einen Blick zu thun hinunter in das friedliche Thal des Zillers mit seinen Wiesen, Wäldern, Auen und Feldern, seinen schmucken Dörfern, Häusern und Kirchlein, und dann hinauf zu den schimmernden Gehängen und blinkenden Eisspitzen, die in ewig gleicher Reinheit und Größe ihr stolzes Haupt in die blauen Lüfte erheben, dem schwillt das Herz vor unendlicher Wonne; ein neuer Geist, ein neues Gefühl, ein Gefühl der unendlichen Erhabenheit und Majestät durchströmt sein inneres und fesselt ihn mit Zaubermacht an jene luftigen Höhen. Möge der Leser mich jetzt auf einem Gange in diese majestätische Hochgebirgswelt freundlich begleiten!

An einem schönen Septembernachmittage verließ ich das freundliche Dorf Zell im Zillerthale, gelangte schnell nach Mayrhofen im Oberzillerthal, dem prachtvollen Stationsplatze für alle Touren in das benachbarte Hochgebirge, und wandte mich sogleich südwestwärts dem Dornauberge zu, um noch Abends nach Ginzling zu gelangen. Der Dornauberg, vom Zemmbache durchströmt, ist ein tiefer, von den Wänden des Tristenspitzes und Grünberges gebildeter Felseneinschnitt, dessen wildromantische, großartige Scenerie den Wanderer mächtig überrascht. Vielleicht nirgends findet sich ein ähnlicher Tummelplatz heroischer Kräfte, ein solches Durcheinander wild zerrissener Felsen und Wuhrsteine, die im Donner der Lawinen beben, vielleicht nirgends hat die Natur mit größerem Aufwande von reizenden gigantischen Mitteln gezeichnet, als hier. Etwa dreiviertel Stunde hinter Hochstegen, einer kleinen, aber kühn gespannten Brücke über den Zemmbach, beginnt die eigentliche Schlucht, die ein und eine viertel Stunde lang bis über den Carlsteg hinaus sich erstreckt. Gewaltige senkrecht abfallende Felswände mit spärlichen Waldansätzen dämmen den wüthend schäumenden Bach gegen Osten ab, während gegen Westen ungeheure Felsblöcke, halb liegend, halb aufgerichtet und den Einsturz drohend, in die ohnedem schon gelichteten Wälder verderbliche Bahnen gebrochen haben und nun in chaotischem Durcheinander den Boden übersäen. Ueber und unter ihnen führt der Weg theils auf-, theils abwärts über Stiegen, Felsen und Gerölle bis zu jenem Carlstege, dem ersten Ruhepunkte in dieser grausen Enge. Hier wendet sich das Thal etwas gegen Süden und behält diese Richtung bis Ginzling. Tief auf athmet die von den geschauten Schrecknissen beengte Seele, und leicht beschwingt eilt sie der grünen Thalbucht und dem freieren Hochgebirge zu.

Aber auch in dieser friedlichen, von verschiedenen Alphütten, sogenannten Asten, belebten Gegend haben die Naturkräfte ihr gewaltig Spiel getrieben und schonungslos in die grünen Matten Verderben und Zerstörung gebracht. Die stolzen Häupter der Thalberge, der Grünberg und Jaun, schütteln alljährlich im Frühjahr die wuchtigen Schneemassen von ihren Schultern, und donnernde Lawinen durchbrausen Fels und Alp. Stundenlange graubraune Streifen und Schuttlinien bezeichnen die Stellen, wo sausend die gewaltige Bergfee zu Thal fuhr, und kirchthurmhohe festgeballte und geknetete Lawinenreste wölben sich über Thal und Bach, ein ernster trauriger Gruß, welchen die stolzen Bergriesen den Thalkindern zusandten. Noch im Hochsommer liegen die Schnee- und Eisfragmente hochaufgethürmt auf verwüsteter Sohle, während rund herum Alpenrosen, Azaleen, Soldanellen, Genzianen etc., von den Schwingen der Windsbraut herabgetragen, ihre duftenden Blüthen dem eisigen Hauche zuwenden, gleichsam ein Sinnbild, wie selbst aus der Zerstörung sich neues Leben ringt.

Nach ein und einer halben Stunde endlich erreichte ich sechs Uhr Abends die letzte Ansiedelung in Dornauberg, das Dörfchen Ginzling, dreitausendeinundachtzig Fuß über dem Meer, das auf traulichem Wiesenplane, rings von erhabenem Hochgebirge umrahmt, zur Rast und Einkehr freundlich einlud. Es war einer jener seltenen Abende, die in voller Klarheit Ruhe und Befriedigung über Thal und Berge ausgießen; nicht ein Wölkchen trübte den tiefblauen Himmel, und ein frischer Ostwind, der von den Stillupper und Floitenthaler Gletschern herabwehte, versprach anhaltend gutes Wetter. Und wahrhaftig ich bedurfte auch des guten Wetters, da mein Reiseplan, so klein er auch in Beziehung auf Distanz schien, sich doch auf ein Terrain erstreckte, das jahrelang von keinem Menschen, kaum von dem Fuße einer flüchtigen Gemse berührt wurde, auf ein Terrain, wo man nur auf sich und die eigene Körperkraft angewiesen ist und ein unglücklicher Zufall den tollkühnen Wanderer in ein kaltes, tiefes Grab bettet.

Ich hatte nämlich im Sinne, zuerst die zehntausend siebenhundertundzehn Fuß hohe Löffel- oder Trippachspitze im Floitenthal zu besteigen, sodann quer über das Eis steuernd die Einsattelung zwischen dem großen Mörchenspitz und dem Schwarzensteinspitz zu erreichen, dort absteigend zur berühmten Schwarzensteinalpe zu gelangen und von da aus den höchst selten gemachten Uebergang über den berüchtigten Schwarzensteingletscher nach dem Pusterthal zu wagen. Damit verband ich die Absicht, das ganze Gebiet so genau wie möglich zu durchforschen, zu zeichnen und am Schwarzenstein Messungen und Gletscherbeobachtungen vorzunehmen.

In dem den kühnern Bergsteigern bekannten Wirtshause beim „pfiffigen Anderl“ nahm ich Quartier und fand Küche und Nachtlager so gut bestellt, wie es in solcher Bergeinsamkeit nur der Fall sein kann. Neugestärkt erwachte ich am nächsten Morgen und schickte mich an, meine Vorbereitungen zu treffen. Der Himmel war klar und spiegelrein, und die mächtigen Ketten des Floitenthales und der Zemm ragten duftumflossen mit wahrem Selbstgefühl in die blauen Lüfte. Auf zwei Uhr Nachmittags waren die beiden besten Führer des Thales, Bartlmä und Jacob G., bestellt. Nachdem ich noch ein kleines Mittagsessen eingenommen, wurden die Mundvorräthe und anderweitigen Utensilien verpackt, die Stricke, Beile und Fußeisen unter die Führer vertheilt, und fort ging es unter vielen Glückwünschen und Grüßen der ersehnten Höhe zu, die ein wahrer Gemsenweidegrund ist. Die Jagd im Zillergrund, Floitenthal und Gungl ist von dem Fürsten Vincent Carl v. Auersperg gepachtet, und die Anzahl der dort gehegten Gemsen mag sich auf acht- bis neunhundert Stück belaufen.

Gleich hinter dem Gasthause betritt man den Thalgrund der Floiten, das östlichste Thal des Dornauberges oder Zemmgrundes. Dasselbe zieht sich mit einer mittleren Erhebung von viertausendeinhundertsechszig Fuß streng südlich und endet am nördlichen Abfall des Löfflers. Wir wanderten, zuerst mäßig ansteigend, durch Wald und Unterholz und gelangten bald zur kleinen Alpe Tristenbach, mitten zwischen riesigen Felsblöcken gelegen, die reich mit einem veilchenduftenden Moose überkleidet sind. Hier gewinnt das Thal an Ausdehnung und Großartigkeit. Links (nordöstlich) entsendet der Tristenspitz und Floitenthurm seine gewaltigen Felsbauten; namentlich aber ist es die südliche Abdachung des Floitenthurms,

welche alles Andere an Wildheit und Großartigkeit übertrifft. In

  1. Unter diesem Titel wird die Gartenlaube von sachkundigen Händen eine Reihe trefflicher Schilderungen und Abbildungen veröffentlichen, die zunächst den Zweck haben, Hinweisungen für Sommerreisen und Touristenausflüge zu ertheilen, wobei namentlich noch minder bekannte Zielpunkte in’s Auge gefaßt werden sollen. Die Redaction. 
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_267.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2024)