Seite:Die Gartenlaube (1869) 271.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

absteigend, theilweise zerrissen und geborsten, zum jenseitigen Ufer führte, begann er mit dem Beile die Eisschneide wegzuhauen und so eine ein bis anderthalb Fuß breite Basis herzustellen. Der zweite Führer löste sich vom Seile los und hielt mit mir, der ich mich auch abband, an dem nun verlängerten Seile den kühnen Mann, der mit seltener Ruhe, halb knieend, halb sitzend, über den dachfirstähnlichen Eisgrat hinüberkroch, stets das Eis vor sich weghauend.

In einer halben Stunde war das Werk vollendet; ich schürzte mir neuerdings das Seil um die Mitte, und so von beiden Ufern aus gehalten, trat ich die gefährliche Wanderung an, die, abgesehen von einigen Stillständen und etwas beklemmenden Momenten, gut von Statten ging. Dem zurückgebliebenen zweiten Führer wurde das Seil hinübergeworfen, und auch er folgte, von uns gehalten, bald nach; so konnten wir, wieder vereint, weiter steuern. Als wir eine Zeitlang gewandert, d. h. vielmehr geklettert und über Klüfte gesetzt waren, eröffnete sich uns plötzlich ein anderes Schauspiel. Gerade am südöstlichen Fuße des Löfflers dehnte sich von Süden nach Norden ein ungeheurer, gewiß dreißig bis vierzig Fuß breiter und hundert bis hundertzehn Fuß langer Firnschrund aus, der oben in eine unübersteigliche Eisrinne und unten in eine Unzahl kleinerer unnahbarer Klüfte auslief. Bartl, der sich vom Stricke losgebunden, um leichter recognosciren zu können, äußerte sich: „Wenn wir da nicht hinüberkommen, so kommen wir auch nicht auf die Spitze, und der Schrund ist ein Teufelsschrund.“ Da diese Kluft bei den früheren Besteigungen nicht existirte und sich erst heuer gebildet haben mußte, so machte das dem wackeren Bartl viel zu schaffen. Er stieg hinauf, er stieg herab, er schaute, forschte und überlegte – endlich kam er zurück. Mit entschlossener Miene sagte er: „Ein Eisgrat führt hinüber, aber grausig ist er; wenn ös es derwagt’s (wenn Ihr es wagen wollt), gut, nachher geht’s.“ Ohne ein Wort weiter zu sprechen, banden wir uns vom Seile los und wollten das Ding versuchen; der alte Spaß ging nun von Neuem los.

Bartl stieg hinab, kroch und wand sich, von uns gehalten, über eine abschüssige Eisterrasse, und wir glaubten schon, daß er nach einigen Schritten das jenseitige, steil abfallende Ufer erreichen würde. Doch dem war nicht so. Der Strick begann sich allmählich zu spannen, und mit Schrecken sahen wir, daß er nicht mehr zureiche. Wir schrieen dem Bartl zu, zu halten, und nachdem wir ihn von dem mißlichen Umstande in Kenntniß gesetzt hatten, stutzte er einen Augenblick, aber nur einen Augenblick; entschlossen erwiderte er: „Gehe es, wie es geht, jetzt kehren wir nicht mehr um; ich haue drei bis vier breite Stufen unter dem bereits zugehauenen Grate, und dann folgt ihr Beide bis hierher nach; so wird der Strick schon reichen.“ So richtig und einzig auch dieses Mittel schien, so wollte es mir dennoch nicht recht einleuchten, denn wenn wir alle Drei auf dem schmalen, trügerischen Eisbande ständen ohne sicheren Tritt, ohne Anhaltspunkt, und Einer von uns würde auch nur einen kleinen Fehltritt thun, so mußten wir Alle unaufhaltbar in die Tiefe stürzen, – und aus diesem Grabe gab es keine Erlösung. Ich hätte es fast vorgezogen, den Bartl umkehren zu machen und allein am Strick gebunden vorauszugehen und mit dem Beil mir einen Weg auszuhauen, da ich den beiden Führern mehr Kraft zutraute, mich im Falle eines Sturzes zu halten, als mir, einen der Führer zu retten. Allein dies hätte viel zu viel Umstände und Zeit gekostet, und ich entschloß mich daher, im Vertrauen auf meine Schwindelfreiheit und meine starken sechszackigen Fußeisen, den gefährlichen Gang zu wagen, die einzige Möglichkeit, auf die Spitze zu gelangen. Bartl hieb mit dem Eisen drei breite, tiefe Löcher in das Eis, und setzte sich selbst so in Positur, daß er mich im Falle eines Ausgleitens zu halten vermochte. Theils reitend, theils kriechend erreichte ich die erste Haltstation und verblieb, da ich mich nicht umzukehren wagte, in dieser Stellung. Der zweite Führer setzte sich zwar etwas kopfschüttelnd, doch als Gemsjäger sich seines Bedenkens schämend, in Reiterstellung auf den Grat und kam wohl sehr langsam, aber glücklich bei mir an.

Nachdem wir nun nach dieser höchst eigenthümlichen Cavalcade unter gegenseitiger Hülfeleistung in den früher ausgehauenen drei breiten Stufen Posto gefaßt, rückte Bartl, des Erfolges sicher und mit schwachem Kopfnicken unserem Muthe Beifall zollend, mit erneuter Kraft vorwärts. Der Strick reichte vollends aus, und schon wollte er, jauchzend, in kühnem Satze einer etwas abschüssigen Eisplatte zuspringen, als er plötzlich mit lautem Aufschrei stürzte und einen Augenblick unseren Blicken entschwand. Der gewaltige Ruck riß mich nach vorwärts, so daß ich auf den Bauch zu liegen kam.

Im ersten Moment vergingen mir fast die Sinne, und ich wußte nicht, wie ich mich in meiner gefährlichen Stellung erhalten konnte. Mein Führer hinter mir hatte mich fest am Rocke gefaßt und half mir zu meiner früheren Stellung. Mit wahrer Todesverachtung und ehe ich mich versah, war er neben oder vielmehr über mir vorgeklettert und zog nun an dem Seile, um den Bartl wieder an’s Tageslicht zu schaffen. Das Seil knarrte, Eistrümmer rasselten in die Tiefe, und plötzlich tauchte drüben der Bartl aus dem nächtlichen Schlunde empor. Er hatte sich während des Falles wie durch ein Wunder mit seinem linken Fußeisen an eine vorspringende Eiskante stemmen und so sich und uns vor dem unvermeidlichen Untergange retten können. Denn wäre er wirklich gestürzt, so hätte er uns Beide von unserem luftigen Sitze herab und mit in die Tiefe gerissen, und kein Zeichen, keine Spur hätte die etwa Suchenden zu unserer kalten Ruhestätte geleitet! So jedoch freuten wir uns, wenn auch mit hochklopfenden Herzen und etwas aschfarbenen Gesichtern, des neugeschenkten Lebens und schritten nun muthig über den hier steil abfallenden Firn. Die soeben überstandene Gefahr ließ die jetzt folgenden nur gering erscheinen, machte uns jedoch vorsichtiger.




Blätter und Blüthen.

Telegraphenleger. Daß der Amerikaner ein praktischer Mensch ist, und besonders alle seine Arbeiten rasch – mit so wenig Verlust an Zeit wie möglich – verrichtet, wird ihm Niemand abstreiten. Wir sehen das auch in allen Gewerken, in allen Beschäftigungen. Ein deutscher Arbeiter braucht durchschnittlich die doppelte Zeit für eine Arbeit, wie ein Amerikaner (Schriftsetzer vielleicht ausgenommen), und bei jeder Beschäftigung ist es dort drüben das Streben der Leute, diese so rasch wie möglich zu erledigen, um dann gleich wieder an etwas Anderes zu gehen.

Man braucht nur in den Städten die Straßenpflasterer mit einander zu vergleichen. In Deutschland sieht es aus, als ob die Leute eine lebenslängliche Anstellung bekommen hätten, wenn sie an das Neupflastern einer Straße gehen – in Amerika treibt ein Arbeiter den anderen, weil fast Alles in Accord ist. Maurer, Zimmerleute, Schmiede, Schlosser arbeiten nicht um zu arbeiten, sondern um fertig zu werden, während bei unseren Leuten daheim nur der einzige Wunsch die Oberhand zu haben scheint, daß bald Feierabend wird.

Oft habe ich hier bei uns zugesehen, wie schauderhaft langsam z. B. das Ausbessern oder Hinzufügen eines neuen Telegraphendrahtes von den damit beauftragten Leuten betrieben wird. Zuerst wird der Draht ausgelegt, dann fangen sie an ihn zu befestigen. Einer trägt eine Leiter, der Andere schlendert hinterher. Jetzt kommen sie an eine Stange; die Leiter wird angelegt, der Eine steigt langsam und vorsichtig hinauf – der Andere hält die Leiter unten, damit kein Unglück passirt. Jetzt ist der Erste oben und hält sich fest, nun nimmt der Zweite den Draht, hebt ihn hinauf und steigt dann wieder hinab, um so lange unten zu warten, bis der Erste fertig ist. Im günstigsten Fall brauchen sie zu jeder Stange eine gute Viertelstunde. Ich sah in Cincinnati einem solchen Arbeiter zu, der das Nämliche allein, und etwa in dem vierten Theil der Zeit verrichtete.

Der Draht war ausgelegt, und ich wurde erst auf den Mann aufmerksam, als ich bemerkte, daß er eine ganz merkwürdige Fußbekleidung trug. Er hatte nämlich, fast wie die Eisengefangenen, vom Knöchel bis zum Knie hinauf, ein starkes Lederschnürwerk um den unteren Theil der Beine, während sich unter den beiden inneren Knöcheln ein dicker eiserner, etwas nach unten gekrümmter Stachel befand, der in der Form Aehnlichkeit mit dem Sporn eines starken Hahnes zeigte und fest in einem ledernen Bund oder Riemen stak. Da er aber die Erde nicht berührte, hinderte er den Mann auch gar nicht am raschen Gehen, und eigenthümlich war es zu sehen, wie er seine Arbeit ganz allein und mitten in der belebtesten Straße Cincinnati’s (in Mainstreet) bewerkstelligte.

Der Draht lag, wie gesagt, ausgestreckt an den Stangen hin, den hob er sich über den Kopf, daß er ihm bis zum Gürtel zurückfiel und dort durch einen Haken aufgehalten wurde. Zu gleicher Zeit erfaßte er die Telegraphenstange selber, die wie bei uns aus weichem Holz bestand, mit beiden Händen, hieb etwa einen Fuß von der Erde erst den rechten, dann weiter oben, indem er sich in die Höhe hob, den linken Fuß ein und lief so mehr als er stieg, und anscheinend mit der größten Leichtigkeit, an der Stange hinauf. Oben aber angelangt, blieb er stehen, schlang den linken Arm um die Stange, hob den Draht herauf, zog ihn mit beiden Händen an, wickelte ihn fest und war in kürzerer Zeit wieder unten, als ich gebraucht habe, die wenigen Worte niederzuschreiben.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_271.jpg&oldid=- (Version vom 27.4.2022)