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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 19.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Mädchen von Liebenstein.
Der Wirklichkeit nacherzählt von Friedrich Bodenstedt.
(Schluß.)


3.

Alexander betrachtete sich jetzt schon als wie zu der Familie gehörig, und um die Einwilligung seiner Eltern so schnell wie möglich zu erhalten, schrieb er gleich einen langen, rührenden Brief an seine Mutter, der er die trefflichen Eigenschaften Mariens und sein ungesucht entstandenes Verhältniß zu ihr in der erbaulichsten Weise schilderte. Zugleich bat er sie herzlich, seine Fürsprecherin bei seinem Vater zu sein, einem hochfahrenden, egoistischen Herrn, an welchen Alexander in dieser Angelegenheit nicht direct zu schreiben wagte und von dem er wohl nur deshalb so wenig sprach, weil er wenig Gutes von ihm zu sagen wußte. In dem alten Fürsten steckte noch ein beträchtliches Stück Bojarenthum; er war wenigstens um hundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen und konnte sich in die neue Zeit mit ihren nach Ausgleichung verjährten Unrechts strebenden demokratischen Tendenzen durchaus nicht finden. Daß die Kaiserin Katharina (welche, obwohl sie eine Deutsche war, von den eigentlichen Stockrussen weit höher gestellt wird als Peter der Große) weiland Hunderttausende freier Bauern im Handumdrehen zu Leibeigenen und willenlosen Sclaven feiler Günstlinge Ihrer üppigen Majestät machte, fand er ganz in der Ordnung; daß hingegen Kaiser Alexander den Bauern wieder zu einem menschenwürdigen Dasein verhelfen wollte, erschien dem alten Herrn als ein Frevel vor Gott und den Sclavenbesitzern. Alle gesetzliche Ordnung betrachtete er als eine gefährliche Bedrohung der geheiligten Rechte des Czaren- und Bojarenthums. Er hätte sich lieber vom Czaren die Ohren abschneiden lassen, um das Recht zu haben, auch seinen Untergebenen die Ohren abzuschneiden, als zu billigen, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien.

Mit seiner Gattin lebte er auf ziemlich kühlem Fuße. Nachdem sie ihm einen Stammhalter geboren hatte und kein zweiter Sohn mehr zu erwarten stand, war sein Interesse für sie völlig erloschen. Das Einzige, was ihm an seiner Gemahlin noch gefiel, war ihr frommer, gottergebener Sinn. „Religion muß sein!“ pflegte er mit einer Wichtigkeit zu sagen, als ob er einen neuen Lehrsatz entdeckt hätte, werth, daß eine Hekatombe dafür geopfert werde. Auch hielt er die Fasten mit großer Gewissenhaftigkeit (was bei den vortrefflichen Fischspeisen, die sein Koch zu bereiten wußte, nicht allzu schwer war), und ging nie an einer Kirche oder einem Heiligenbilde vorüber, ohne das Zeichen des Kreuzes zu machen. Uebrigens war er ein Trinker, an dem selbst Peter der Große seine Freude gehabt haben würde, und der Dorfpriester, der im Zechen auch seinen Mann stand, mußte ihm häufig bei seinen Gelagen als Gesellschafter, als geduldiger Anhörer seiner langen Geschichten aus der guten alten Zeit, als Zielscheibe seiner Witze und zuweilen selbst der Ausbrüche seines Zornes dienen. Es kam mehr als einmal vor, daß er dem langhaarigen Diener des Herrn, dessen Haupt und Bart nie weder Scheere noch Scheermesser berührt hatte, eine Flasche oder ein Glas nach dem Kopfe warf.

Hin und wieder, d. h. so oft er Geld brauchte, kam sein Bruder Dimitry, der sonst immer in Baden-Baden oder Paris lebte, auf Besuch und blieb so lange, bis er die Taschen wieder gefüllt hatte, wozu er jedesmal einen neuen Feldzugsplan entwerfen mußte. Er imponirte seinem älteren Bruder durch seine überlegene Weltbildung, die elegante Leichtigkeit seiner Umgangsformen und die dialektische Gewandtheit, mit welcher er nach langen, verwickelten Vordersätzen, die der Bruder nicht verstand, immer zu Schlüssen kam, welche diesem so recht aus dem Herzen gesprochen waren. Dimitry’s Anwesenheit im Schloß gab jedesmal Anlaß zu Festgelagen, zu welchen die gutsherrlichen Familien der Nachbarschaft eingeladen wurden, um die sich sonst der Fürst nicht viel kümmerte, da ihm die Damen entweder zu geziert oder zu frei, die alten Herren zu langweilig und die jungen zu aufgeklärt waren.

Es gereichte ihm aber zu besonderer Genugthung, zu sehen, wie überlegen sein Bruder mit Alt und Jung umsprang; wie er die Mütter durch die Töchter gewann und die Töchter durch die Mütter; wie er den Alten fabelhafte Geschichten erzählte, wobei er immer den Mund voll Kaiserinnen und Königinnen hatte; wie er die Jüngeren durch Witzworte und gelegentliche Anführung berühmter Autoren blendete, die natürlich sämmtlich seine intimen Freunde waren, und wie er sich im Grunde über Alle lustig machte.

Fürst Michail hatte eine besondere Liebhaberei für seinen Bruder Dimitry, obgleich oder weil er diesem schon große Summen geopfert hatte; wie es denn nicht selten vorkommt, daß reiche Leute diejenigen am meisten lieben, die am meisten dazu beitragen, ihr Geld unter die Leute zu bringen. Wenn die Gäste nach Hause gefahren waren, pflegte er mit ihm „noch ein Gläschen unter vier Augen“ zu trinken, wobei ihm Dimitry tapfer Stand hielt, um ihn bei guter Laune zu erhalten, denn aus dem Weintrinken an sich machte er sich, wie die meisten Spieler, wenig. Fürst Michail ließ dann gewöhnlich „einige Flaschen mit Spinngewebe“ bringen, was er nur that, wenn er glaubte einen feinen Kenner vor sich zu haben, oder wenn es sich darum handelte, einen Gast besonders zu ehren. Das Spinngewebe an den Flaschen galt ihm nämlich als ein untrügliches

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_289.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2021)