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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

kaum Zeit, diesen Gedanken auszudenken, als auch bereits das Pferd auf dem Greinsfelder Wege herbrauste. Von seinem Rücken flatterte, wie eine leichte Sommerwolke, ein weißes Damenkleid, und über den hochaufbäumenden Kopf des Thieres hinweg wehte gelöstes blondes Haar. Auf Roß und Reiterin fielen aus den Wipfeln goldene Lichter nieder, und diese funkelnden, auf- und abhuschenden Flecken machten die jäh hervorstürzende Gesammterscheinung fast grauenhaft schön.

Die Damen stoben schreiend auseinander.

„Mein Gott!“ stieß der Fürst hervor – der alte Herr taumelte förmlich zurück, die Baronin Fleury aber streckte wie sinnverwirrt abwehrend ihre Arme aus.

„Kehre um, Gisela ich beschwöre Dich!“ rief sie völlig fassungslos. „Ich kann Dich nicht sehen! … Die Angst tödtet mich!“

Allein da stand schon das Pferd, ein schöner Araber, wie festgemauert mitten auf der Wiese; der Schaum floß vom Gebiß, und die Nüstern flogen – ein einziger Ruck seiner Herrin, die auf seinem nur mit einer leichten Decke gesattelten Rücken saß, hatte es zum Stehen gebracht.

„Greinsfeld brennt!“ rief sie hinab, ohne das halbwahnwitzige Gebahren der Stiefmutter zu beachten – ihr schönes Gesicht war todtenbleich.

„Das Schloß?“ fragte der Portugiese – er war der Einzige, der scheinbar seine Ruhe behauptete – alle Anderen standen so gänzlich bestürzt und fassungslos, als habe eine gewaltige Faust die überraschende Erscheinung aus dem Erdboden gehoben.

„Nein – im Dorfe brennen mehrere Häuser zugleich!“ antwortete das junge Mädchen mit halberstickter Stimme und warf die prachtvollen Haarsträhne zurück, die ihm über den Busen gefallen waren.

„Und um deswillen machst Du einen solchen tollen Ritt? … Wahnsinnige!“ rief der Minister maßlos empört, während sich der Portugiese mit einer tiefen Verbeugung und einigen Worten von Seiner Durchlaucht verabschiedete und gleich darauf im Walde verschwand.

Fast schien es, als habe die junge Reiterin von allen Anwesenden nur diesen Mann bemerkt; bei seiner Frage hatte sich ein wahres Rosenlicht über ihr blasses, erschrecktes Gesicht ergossen, und mit dem Verschwinden der hohen Gestalt erlosch es sofort.

Jetzt kam aber auch Leben in die erstarrte Versammlung – die Herren, unter ihnen die Gräfin Schliersen, umringten stürmisch Pferd und Reiterin; und wenn auch die jüngeren Damen infolge unliebsamer Ueberraschung und eines sehr erklärlichen Unbehagens sich fern hielten, so hingen doch alle diese schönen Augen mit wahrhaft verzehrender Spannung an dem Gesicht der jungen Einsiedlerin, die „der boshafte Zufall“ so unvorbereitet und plötzlich mitten in den Hofkreis hineinwarf. … Wie, die Erscheinung, die so ätherisch leicht da droben schwebte und doch mit so kühner und kräftiger Hand ihr Pferd beherrschte; sie sollte das verkrüppelte, gelbe Geschöpfchen sein, welches nach Aussage der Stiefeltern in tiefster Einsamkeit eines langsamen Todes starb? … Vor diesen wundervollen, keuschen braunen Mädchenaugen wollte sich einst die schöne Hofdame gefürchtet haben? Und hinter der leuchtenden, vom schönsten Blondhaar umflatterten Stirn sollte maßlose Bosheit brüten?

„Liebste Jutta, Du hast uns einen reizenden Fastnachtsschabernak gespielt!“ sagte die Gräfin Schliersen in ihrem beißendsten Ton zu der schönen Excellenz. „Zu Deiner Genugthuung will ich Dir gestehen, daß ich überrascht bin, wie noch nie in meinem Leben. … Deine schmerzliche Entrüstung über meine ,neugierigen Augen’ war aber auch zu gelungen!“

Die Baronin erwiderte auf diese Bosheit kein Wort. Sie sah aus wie ein Geist mit ihren schneeweißen Lippen und Wangen, hatte aber ihre Fassung vollständig wiedergewonnen. Sie schlug die dunklen Augen vorwurfsvoll zu der Stieftochter auf.

„Mein Kind – Gott mag Dir verzeihen, was Du mir angethan hast!“ sagte sie in weichen Tönen. „Diesen Augenblick verwinde ich nie! … Du weißt, daß es mir namenlose Angst macht, Dich auf dem Pferde zu wissen! Du weißt, daß ich fortwährend für Dein Leben zittere! … Was hattest Du mir versprochen?“

Gisela’s Blick war einen Moment verschüchtert über alle die fremden Gesichter hingeglitten – jetzt aber sprühten die braunen Augen auf.

„Ich hatte Dir versprochen, nicht in Deinen Gesichtskreis zu kommen, Mama!“ versetzte sie. „Aber soll ich mich denn wirklich rechtfertigen, daß ich mein Versprechen nicht halten könnte, weil ich Hülfe für mein armes Dorf holen muß? … Unsere Leute sind auf dem Jahrmarkt in A.; nur der alte Braun, der nicht reiten kann, und der lahme, kranke Stallknecht Thieme sind zu Hause. … Im Dorfe ist nicht ein einziger Mann – die Leute arbeiten ja fast alle in Neuenfeld – Frauen und Kinder laufen schreiend und rathlos um die brennenden Häuser –“

Sie verstummte – das ganze Entsetzen, das sie auf ungesatteltem Pferd über Berg und Thal getrieben, kam wieder über sie, und wenn auch ihr Aufenthalt auf der Wiese sich kaum auf wenige Minuten erstreckte, diese Minuten waren doch verloren …. Sie mußte weiter von all’ Denen, die sie umstanden, rührte auch nicht Einer Hand und Fuß; die vornehmen Herren schienen es nicht gehört oder bereits vergessen zu haben, daß es da drüben hinter dem Walde brannte. … Jener verächtliche Zug, welcher auch einst das schöne Gesicht der Gräfin Völdern charakterisirt hatte, bog ihre Mundwinkel herab. Ihr Blick flog über die Köpfe hinweg nach dem Neuenfelder Weg – man sah, sie war im Begriff, den Kreis, der sie umringte, ohne Weiteres zu sprengen.

Wären nicht Aller Augen beharrlich auf die Reiterin gerichtet gewesen, dann hätten diese Hofschranzen ein Schauspiel haben können, für sie vielleicht interessanter noch, als die „hereingeschneite Schönheit“ auf dem Pferde. Der Minister, dieses Urbild eines Diplomaten, Seine Excellenz mit der ehernen Stirn, an der alle Angriffe wirkungslos abprallten, der Mann mit den schlaffen Augenlidern, die sich hoben und senkten, wie der Theatervorhang, um gerade nur das zu zeigen, was gesehen werden sollte – der gewaltige, gefürchtete Minister war augenblicklich schwächer als seine gewandte Gemahlin; er rang, vergebens nach äußerer Ruhe, und Fassung – er konnte weder die fahle Blässe, noch den verzweifelten Grimm von seinen Zügen wegwischen.

Bei der Bewegung des jungen Mädchens griff er mit rauh zufassender Hand in die Zügel des Pferdes, und ein dämonisch wilder, furchtbar drohender Blick traf ihr Auge. … Sie erbebte er hatte sie vorhin in Bezug auf ihre Handlungsweise eine Wahnsinnige genannt – er hielt offenbar seine gräfliche Stieftochter in den Augen des Hofes für compromittirt, weil sie um einiger elender, zusammenprasselnder Schindeldächer willen ihre Standeswürde und die strengen Gesetze der Etikette achtlos bei Seite setzte – er wollte sie an einer weiteren „Tollheit“ verhindern – was kümmerte ihn der verzweifelnde Jammer da drüben in dem Nest, über dessen Wohl und Wehe die gehorsame Stieftochter früher mit denselben gleichgültigen Augen hinweggesehen hatte wie er?

Infolge dieser blitzschnell kreisenden Gedanken flammten die Augen der jungen Gräfin auf. … Seine Excellenz hatte die Kraft in diesen schmalen, weißen Händen, unterschätzt – mit einem einzigen Rucke zog sie den Zügel gegen sich, das Pferd stieg kerzengerade in die Höhe, und die Umstehenden wichen erschrocken zurück.

„Papa, Du wirst mir erlauben, nach Neuenfeld zu reiten,“ sagte sie sehr energisch, wenn auch ohne alle Heftigkeit, und hob die Reitgerte, um das Thier anzutreiben – in demselben Augenblick krachte ein Schuß dumpf herüber.

„Aha, der erste Alarmschuß in Neuenfeld!“ rief der Fürst. „Herr von Oliveira muß geflogen sein! … Beruhigen Sie sich, schöne Gräfin Völdern!“ wandte er sich an Gisela: „Sie brauchen nicht weiter zu reiten. Glauben Sie denn, ich würde so ruhig geblieben sein, wenn ich nicht gewußt hätte, daß da drüben“ – er deutete nach der Neuenfelder Richtung „bereits alle Vorkehrungen zur schleunigsten Hülfe getroffen würden?“

Jetzt erst bemerkte Gisela den alten Herrn, die schmächtigste, unscheinbarste Gestalt unter den Versammelten. Er hatte sie mit dem Namen ihrer Großmutter angeredet – das klang sonderbar, fast wie verwirrt – sie wußte ja nicht, daß er in ihr die unvergleichlichen Formen seiner „Protégé“ wiedererstanden sah – indeß, was er sagte, klang so gütig beruhigend, und das wohlbekannte schmale Gesicht mit den kleinen, grauen Augen – dieser fürstliche Kopf, mit welchem Frau von Herbeck einen wahren Cultus trieb, hing photographirt, lithographirt und in Oel gemalt in allen Zimmern der Gouvernante – das Gesicht erschien so harmlos und freundlich neben den unheimlichen verwandelten Zügen des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_303.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2021)