Seite:Die Gartenlaube (1869) 644.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

des Lebens widerstrahlend. – Wann wird der erste Schatten verdunkelnd auf die bunten Farben fallen, die so schön aussehen und doch nicht viel mehr bedeuten als der Staub auf den Flügeln des Schmetterlings?


Wir verlegen den Schauplatz um zehn Jahre zurück. Es war ein rauher Novembermorgen, die Sonne noch nicht aufgegangen, der Reisewagen hielt vor der Thür.

Vor wenigen Tagen hatte ein anderer Wagen dort gestanden, schwarz behängt, von traurigem Aufsehen. Er führte die Mutter der Waisen, die jetzt in das fremde Leben hinaussollten, der letzten Ruhestätte zu. Freifrau Rosine von Fuchs, die Schwägerin der Verstorbenen, hatte sich erboten die nun ganz verwaisten Kinder ihres schon früher dahingegangenen einzigen Bruders zu sich zu nehmen. Sie war reich, hatte keine näheren Verwandten. Ihr großherziges Anerbieten hatte die letzten Stunden der Leidenden versüßt, – es hatte die volle Billigung des Vormundes der Kinder, des Majors von Brücken, der auf die Nachricht vom Tode der Frau von Fuchs herbeigeeilt war, ihren Nachlaß zu ordnen und über die Reise der Kinder zu verfügen.

Sie standen oben in ihre Reisekleider gehüllt, sie hatten, die beiden Aeltesten still, die kleinen Zwillinge mit heißen Thränen, der mütterlichen Heimath Lebewohl gesagt, der alte Herr gab, wohl hauptsächlich dem vierzehnjährigen Hasso und seiner um ein Jahr älteren Schwester Ursula, noch manche goldene Lebensregel mit auf den Weg.

Bei grauer Dämmerung fuhren die Reisenden aus und grau und trübselig lag der ganze Tag vor ihnen. Dann ging die Sonne auf, für die Stadtkinder ein nie gesehenes Schauspiel, das augenblicklich die Scenerie änderte und der bis dahin noch gedrückten Stimmung auf einmal einen wohlthätigen Schwung verlieh. Wie kann man in einer Welt verzagen, in der täglich die Sonne aufgeht!

In einer kleinen Stadt wurde Mittagsrast gemacht. Hasso ließ sich und den Geschwistern eine aparte Stube geben, Ursula bestellte das Essen, sie kamen sich wie die Eltern der beiden kleinen Mädchen vor und fühlten das Verantwortliche ihrer Stellung mit einer Art ernster Genugthuung.

Den Zwillingsschwestern Elly und Liddy kam es unendlich interessant vor, in einem fremden Ort, in einem Wirthshause zu speisen. Das war noch nie geschehen. Aber als sie an dem gedeckten Tisch Platz nahmen und Hasso das Tischgebet sprach, dasselbe, das die Mutter sonst gesprochen hatte, als ihm das Wasser hell in die Augen schoß und Ursula’s Lippen zuckten, da weinten sie laut, aber das Essen schmeckte ihnen doch und die Weiterreise wurde mit frischem Muth angetreten.

Vor Abend konnten sie nicht in L. bei der Tante sein, aber wie früh löst im November der Abend den Tag ab, besonders wenn dieser consequent in den weißen Schneemantel gehüllt bleibt.

Wohl hundertmal fragten Liddy und Elly den Kutscher, ob sie noch nicht bald da wären. Er nannte immer noch eine Meilenzahl, die ihre Ungeduld erhöhte. Der Kutscher gehörte auch zu der lieben zerrissenen Häuslichkeit. Er war ein Gülzenower Kind und zählte schon deshalb zur Familie. Der verstorbene Vater der Kinder hatte ihn als blutjungen Menschen zu seinem Dienst herangezogen und er sich so vortrefflich bewiesen, daß die Wittwe ihn nach dessen Tode behielt. Er war noch ein ziemlich junger Mensch, kaum vierunddreißig Jahr alt, aber für die jungen Kinder, die von Anbeginn ihres Lebens immer dasselbe Gesicht im Hause gesehen, hatte Joseph schon etwas Patriarchalisches.

Endlich hieß es. „da ist ein Kirchthurm zu sehen, da ein zweiter, dritter, das ist L. Jetzt fahren wir in die G ... er Vorstadt ein, dort das Haus mit dem Kastanienbaum vor der Thür ist es, dort wohnt die Tante.“

Die beiden Kleinen, die schon ganz reisemüde waren, athmeten fröhlich auf, den Aelteren fiel, so zu sagen, das Herz vor die Füße. Ein Gefühl unsäglicher Bangigkeit ergriff sie. Seit dem Tode des Vaters war die Tante nicht mehr in ihr Hans gekommen, sie hatten nur ein undeutliches Bild von ihr in der Seele und das gemahnte an harte, wenig einnehmende Züge. Sie reichten einander stumm die Hände. Es war ein Schutz- und Trutzbündniß für schlimme und gute Zeiten.

Der Wagen hielt. An einem der Fenster der Beletage wurde ein Vorhang etwas zurückgeschoben und ein von steifem Haubenstrich eingerahmtes Gesicht blickte neugierig hinunter. Zu gleicher Zeit ging die Hausthür auf, ein Diener kam den Wagenschlag zu öffnen und den Kindern herauszuhelfen, aber Joseph war schon vom Bock herunter und ihm zuvorgekommen.

„Ich muß gleich Abschied nehmen, ich fahre morgen in der Frühe zurück,“ sagte er mit mühsam bekämpftem Zittern der Stimme.

Die kleinen Mädchen hingen sich an ihn.
„Lieber, lieber Joseph, bleib’,“ baten sie.

Ursula verwies ihnen freundlich die unverständige Bitte. Sie selbst reichte Joseph mit zutraulichem Kopfnicken die Hand, sie brachte kein Wort heraus.

„Leb’ wohl, alter Joseph,“ sagte Hasso. „Nun geht unser letzter Freund! Wann, wo werden wir uns wiedersehen?“

„So Gott will, auf Gülzenow,“ entgegnete Joseph, dem es nun gelungen war, seine Bewegung zu unterdrücken, mit kräftiger Stimme. „Auf Gülzenow. Ich bleibe jetzt beim Vater in der Wirthschaft, und wenn der Herr Junker Herr auf Gülzenow sein werden, dann werde ich wieder Herrendiener, jetzt will ich meines Vaters Knecht sein.“

„Herr von Gülzenow, das hat gute Wege,“ meinte Hasso, „aber irgendwo auf’s Laub gehe ich und dann kommst Du zu mir, das ist abgemacht, dann wollen wir zusammen wirtschaften“

„Die gnädige Tante werden ungeduldig sein, wollen die Herrschaften nicht heraufkommen?“ mahnte Johann, der Freifrau von Fuchs Kammerdiener.

Noch ein Lebewohl aus Aller Munde, Joseph sprang auf den Bock.

„Noch nicht fortfahren, warten!“ rief eine Stimme oben aus dem geöffneten Fenster, das aber gleich wieder geschlossen wurde.

"Hast Du gehört, Joseph? Du sollst warten,“ sagte Hasso und folgte nun seinen Schwestern ins Haus, die Treppe hinauf, in’s erste Geschoß.

Auf dem Flur wartete ihrer Dore, die mit der Tante alt gewordene Dienerin, hieß sie ablegen, den Kleinen dabei helfend, wobei sie ein „Gott bewahre mich, Ihr seht ja aus Eine wie die Andere!“ ausstieß und Hasso wie Ursula einer strengen Musterung unterwarf.

„Nanu wird wohl schön Alles im Hause zerschlagen werden,“ sagte sie dann mit einem Seitenblick auf Hasso, „der junge Herr scheinen gerade in dem Alter dazu. Alle Glieder zu lang und noch nicht Saft und Kraft darin. Nun, hier wird’s wohl werden, unsere Line kocht gut, hat’s von mir gelernt, die gnädige Frau hält was auf gute Bissen.“

Hasso lachte zu der Bemerkung über seine langen Glieder, die daran geknüpfte Verheißung machte wenig Eindruck.

„Wir sind fertig, dürfen wir jetzt zur Tante gehen?“ fragte Ursula mit ihrer leisen Stimme, die so gut zu ihrem anspruchslosen Aeußern paßte und doch etwas Festes und Sicheres hatte, das etwaigem Widerspruch vorzubeugen schien.

„Ja, ja, Sie dürfen, gnädiges Fräulein,“ stotterte Dore.

Ursula lächelte.

„Nennen Sie mich nur lieber Ursula, wie Sie’s sonst thaten. Ich höre meinen Namen lieber, und meine Gnade wird wohl vorläufig noch nicht viel zu bedeuten haben.“

Dore knixte.

„Nun, wenn Sie’s denn erlauben,“ sagte sie, während ihre brummige Miene sich gleichfals aufhellte, "Fräulein Ursula. Gott, wie das herangewachsen ist!“ Sie betrachtete Ursula forschend. „Sie werden nicht von ihr verzogen werden,“ setzte sie dann hinzu, „machen Sie sich nichts daraus, Herzenskind, ich werde es thun. Gleichgewicht muß sein in der Welt.“

Ursula sah erstaunt die Redende an. Sie verstand nicht gleich, was sie meinte, hatte auch keine Zeit darüber nachzudenken, denn jetzt wurde die Thür geöffnet und eine große starkknochige Dame erschien in derselben. Sie hatte hastige, ungraziöse Bewegungen, ein strenges trotziges Gesicht, kleine, meist spitz und scharf blickende Augen, in denen aber doch zuweilen, wie eben jetzt, Wohlwollen, ja sogar nicht selten enthusiastisches Empfinden aufloderte, das die Härte der Züge und des Ausdruckes wunderbar milderte und wie verschönend überhauchte.

„Na, seid Ihr da? Nur herein, kleines Gekrassel!“ rief sie den Kindern zu. „Herr Gott, der große Junge! Mensch, was mach’ ich mit Dir? Eins, zwei, drei, vier Stück, richtig abgeliefert.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_644.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)