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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


Mir schwindelte vor diesem echt königlichen Gedächtniß, welches zwar mitunter um einen Knopf oder um eine Schnalle und farbige Litze irrte, aber sich dann auch sofort verbesserte.

„Doch Sie hören ja gar nicht mehr zu,“ sagte plötzlich Mentor zum Telemach, „und ich erzähle das Alles nur um Sie zu unterhalten.“

„Bitte um Verzeihung, königliche Hoheit, ich war ganz Ohr!“ und mit wahrer Wollust stürzte sich der Knabe wieder in die postalische Tiefe.

Endlich schlug die Stunde der Erlösung, ein herzoglicher Lakai beorderte uns nach dem Schlosse zurück. Die Gesellschaft, welche sich unterdeß um einige ältere Herren vergrößert hatte, war bereits im oberen Saale versammelt. Die Catalani stellte mich dem martialischen Cumberland vor, und nun ging’s direct an das Pianoforte, ich in der Mitte – an meiner rechten Seite saß der hohe Wirth und genirte mich beim Blattumwenden um so mehr, da er sich, trotz seiner Einäugigkeit, darauf capricirte in die Noten zu sehen – an meiner Linken saß die Sängerin – und zwischen ihr und mir stand der kleine Herzogssohn, abwechselnd der Catalani in den Mund oder mir auf die Finger blickend. Er schaute mit den klaren Augen so lustig drein, daß wohl Niemand auf die Idee gekommen wäre, wie ein unerbittliches Geschick diese beiden hellen Sterne so bald in ewige Nacht tauchen sollte! Meine Position war in solcher nächsten Umgebung nicht eben beneidenswerth und sie wurde es noch weniger, als nach einigen Messiasnummern der alte Herr den Einfall kriegte, Duette aus der „Semiramis“ zu verlangen, weil er es für ganz selbstverständlich hielt, ein junger Musiker, der Clavier spiele, müsse auch Stimme haben und singen können. Zufällig traf diese Voraussetzung bei mir ein, und ich mochte mich als Assure wie als Arsace wohl leidlich genug aus der Affaire gezogen haben – wenigstens kargte die Catalani nicht mit mezza voce zugerufenem Bravo. – Nach jedem der vorgetragenen Musikstücke wurde eine Pause gemacht, während welcher sich der Herzog, ohne den Platz zu verlassen, in englischer Sprache, von der ich nicht ein Wort verstand, mit der Sängerin hinter meinem Rücken unterhielt, so daß wir alle drei eine volle Stunde lang nicht vom Clavier aufgestanden sind; unterdessen tippte der kleine Cumberland langsam prüfend auf den Contratasten umher, und da ich nichts zu thun hatte, begleitete ich seine zufälligen Bässe mit improvisirter Harmonie, die seine volle Aufmerksamkeit erregte; auch hat sich später bei dem jungen Mann wirklich musikalisches Talent entwickelt. – Die Catalani schloß mit den Rode’schen Variationen.

Als das Concertino beendet war, trat die Frau Herzogin auf mich zu, sagte mir allerlei Schönes und zeigte sich als eine so enragirte Freundin kirchlicher Musik, daß ich gleich und nicht vergeblich um die Erlaubniß bat, ihr eine geistliche Cantate (der Erlösete opus 6) dediciren zu dürfen. Zuletzt folgte stehenden Fußes ein ziemlich einfaches Souper, bei welchem ich die Bekanntschaft des auf Urlaub in Berlin anwesenden, am dänischen Hofe accreditirten preußischen Gesandten (ich glaube von Rheden) machte, der sehr ungenirt den Souverain in Kopenhagen nicht einen hohen, sondern einen rohen Herrn nannte, auch der schwedische Gesandte, Herr von Brendel, eine in musikalischen Kreisen allgemein beliebte Persönlichkeit, war unter den Gästen und sprach sehr ausführlich über die künstlerischen Verhältnisse in Stockholm. Leider sollte ich mich von denselben nicht durch eigene Anschauung überzeugen können, denn schon zwei Tage später überraschte mich Möser mit der Nachricht, daß die Catalani, in Folge schlimmer Botschaften aus Italien, ihre nordische Expedition abgegeben, und Hals über Kopf in dolce patria zurückgekehrt sei. Ich habe sie nicht wiedergesehen. Sie starb 1849 in Paris an der Cholera, und zwei Jahre später bestieg, Der im Mai 1827 auf ihrem Schooß gesessen, den Königsthron von Hannover.

Und wo sah ich ihn wieder? Am 7. Januar 1861 wurde Friedrich Wilhelm der Vierte in Potsdam zu Grabe getragen. Die zunächst der Leiche Folgenden waren der jetzt regierende König von Preußen und von ihm geführt sein blinder Vetter, Georg der Fünfte von Hannover. Vor ihnen Beiden im Sarge lag der Mann, welcher 1848 die deutsche Kaiserkrone zurückgewiesen hatte.




Aus vollem Menschenherzen.

Wissenschaftliche Novellette von A. Bernstein.
(Schluß.)


„Demokritos erklärte dem armen Pygmalion nun, daß er blos mit den Beinen in der Philosophenhöhle stecken müsse, weil ihnen am geistlosesten Theil des Leibes das Lachen nicht gegeben ist. Sein Oberkörper, der das Lachen übt, gehöre dem Sonnenlicht und der Welt an, die von außen her den Menschen den Geist einflößen.

‚Die Thoren da unten‘ – fuhr er fort, – ‚meinen, daß die Götter oder die Natur den Menschen eine Portion Geist mitgegeben auf die Welt, die er nach und nach in Gedanken ausgiebt. Wäre dem so, so müßten die Kinder mit der höchsten Portion des Geistes auf die Welt kommen, während wir ja sehen, daß sie da noch dümmer als die Kälber sind. Wann aber merkst Du die erste Spur des Geistes an ihnen? wenn sie das Weinen, ihr erstes Lebenszeichen, überwunden und anfangen Dich anzulächeln. Wenn sie klüger werden und die Mutter anlachen, so ist das ein Zeichen, daß vom Geist ihnen mehr und mehr zugekommen ist. Das Thier kann heulen und jammern und ist geistlos durch sein ganzes Leben. Der lachende Mensch ist der Träger des Geistes.‘

‚Und nun, armer Junge,‘ fuhr der lachende Philosoph fort, ‚merke auf, und Du wirst begreifen, woher das kommt und was Deinem Weibe fehlt, um Geist zu haben.‘

‚Wie kein anderes lebendes Wesen wird der Mensch in Schmerzen geboren. Wie keines sonst tritt er weinend in die Welt. Diese Schmerzen sind die Erwecker seines Lebens. Ihn schmerzt das Athmen. Ihn schmerzt das Tageslicht. Ihn schmerzt die Kälte der Luft. Aber im Schmerz empfängt der Neugeborene die Eindrücke der Welt außer ihm und wird die Welt und die Dinge um ihn nach und nach gewahr. Dieses Gewahrwerden und Erkennen nennen wir Geist, der sich nach jedem neuen auf den Menschen eindringenden Schmerz immer wechselnd und wachsend kund giebt, und der im Schwinden des Schmerzes sich äußert als Geist, im Lachen.‘

‚Und nun,‘ fuhr der Philosoph lachend fort, ‚nachdem Du selber Deinen Schmerz von da unten überwunden hast und ein lachender und geistbegabterer Mensch geworden bist, nun setze Dich näher her zu mir und höre, was Deiner Frau fehlt.‘

Pygmalion gehorchte; und da er wieder eine traurige Miene annahm, stieß ihn Demokritos mit den Ellenbogen an die Seite und lachte so herzhaft, daß der Geist und das Lachen auch seinem Schüler wiederkehrte.

‚Deine Frau, mein guter Junge, ist eine geborene von Stein. Sie ist nicht in Schmerzen zur Welt gekommen, das Licht der Sonne hat sie nicht geblendet, das Athmen der Luft hat ihr nicht weh gethan, die Kälte war sie als Marmorblock gewohnt. Sie war kein Wickelkind, dem jedes Band weh thut, Du hast ihr Zähne gemacht ohne Schmerzen. Sie ist nie aus der Wiege gefallen. Sie hat sich niemals den Kopf am Stuhl, am Tisch gestoßen. Sie hat niemals die Gefahren des Gehenlernens zu überstehen gehabt. Sie hat keinen Keuchhusten, keine Masern, keinen Scharlach bekommen. Sie hat nie über Schularbeiten geweint. Sie hat nie im halberwachsenen Zustand, gleich anderen Mädchen, in schmerzlicher Liebeseinbildung geschwärmt. Sie hat nie als Jungfrau die große Sorge empfunden, wo sie einen Mann herbekommen soll. Du hast sie Dir als Stein, der keine Empfindung von der Außenwelt hat, fix und fertig gemeißelt. Auf Dein Bitten hat sie Zeus belebt und da hast Du sie auf dem Fleck geheirathet. Lieber Junge, das war ein dummer Streich! Wie sollte da wohl der Geist in sie hineingekommen sein?!‘

Da Pygmalion in richtiger Würdigung des Gesagten den Kopf traurig sinken ließ, stieß ihn der Philosoph wieder mit dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 683. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_683.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2022)