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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

strahlte; wie zur Abkühlung und Erquickung hatte sich dafür ein Lüftchen aufgemacht, das rauschend durch die Wipfel ging und manchmal ferne halbverwehte Glockentöne heran trug, mit welchen in den benachbarten Dörfern die durchziehenden Wallfahrer begrüßt wurden. Manchmal mischten sich auch die Töne fernen Gesangs und laut betender Stimmen darein und verkündigten, daß der Feichtenbauer keinen großen Aufwand von Geduld nöthig gehabt hätte, das Eintreffen des Wallfahrtszuges abzuwarten.

Wendel saß und horchte und sah schweigend um sich.

Die erregten Wellen seines Gemüths hatten sich wieder gelegt; sie strömten ruhig dahin, friedliche Gedanken schwammen darauf wie lustig gleitende Schifflein und trugen ihn mit sich, hinweg in ferne andere Orte, zurück in langvergangene Tage. Das Rauschen der Linden gemahnte ihn an die Stimmen des Tannenbühels, der weit drüben jenseits der Berge lag, zur Seite einer kleinen hölzernen Hütte, in der einst seine Eltern gehaust; aus den Tönen klang es ihm zu wie die Stimme der Mutter, die ihm noch unvergessen in der Seele lebte. Die Jahre der Kindheit zogen an ihm vorüber und das Klingen kam ihm vor wie das Geläute seiner heimathlichen Dorfkirche, so feierlich wie damals, als er zum ersten Male an der Hand der Mutter zur Sonntagsandacht ging – so ernst, wie an jenem Tage, wo er mit ihr an dem offenen Grabe des Vaters stand, der ein Holzarbeiter gewesen und beim Fällen eines Baumes, von den stürzenden Aesten erfaßt, ein schnelles und frühes Ende gefunden. Er sah dann die Zeit kommen, wo auch die Mutter nebenan in eine Grube gelegt worden war und wo er verwaist unter fremden Menschen aufgewachsen und das harte Brod früher Dienstbarkeit gegessen – er sah die Orte wieder, in denen er eine kurze Unterkunft gefunden, bis zu dem Tage, wo er sich aus den Bergen heraus in’s Vorland verdungen hatte und auf den Feichtenhof gekommen war; er empfand es wieder, wie es ihn dort zuerst angeheimelt, wie noch nirgends, denn das stattliche Gehöft lag gerade so auf der Anhöhe in einem Hain von Obstbäumen, wie die Hütte der Eltern gelegen hatte, und wie dort lehnte es sich seitwärts an einen Bühel voll dunkelgrüner Fichten und Tannen, daß er beim ersten Anblick zweifelnd stehen blieb, als ob er irre gegangen und statt in den fremden Ort in die Heimath zurückgewandert wäre. Er sah das Jahr, das er dort zugebracht, wie einen einzigen schönen Tag an sich vorüberziehen, denn noch nirgends war ihm so wohl und heiter gewesen um Herz und Sinn, an keinem Orte war ihm die schwerste Arbeit so kinderleicht aus der Hand geflogen – dazwischen hinein schwebte ihm ein liebes, zwar ernsthaftes, aber doch freundliches Angesicht vorüber und sah ihn mit den blauen Augen so wunderbar an, als wollten sie ihm bis auf den Grund der Seele schauen, und eine Stimme klang ihm im Ohr nach, aus der es ihn so eigen ansprach, wie einst aus der Stimme der Mutter, und deren Laut ihm so unvergeßlich geblieben, wie dieser. ...

Er war so tief in’s Träumen versunken, daß er wie erschrocken auffuhr, als mit einem Mal hoch über ihm die Glocken der Kirche zu läuten begannen, um die Wallfahrer zu begrüßen, deren Zug bereits nahe heran schritt – ein lieblicher Anblick, denn zwischen den grünen Baumwipfeln wehten die rothen Fahnen mit den goldblitzenden Knäufen und Kreuzen gar schön hervor und der unabsehbare Zug geschmückter Menschen schritt feierlich heran, jetzt durch eine Reihe nickender Gebüsche versteckt, jetzt sich hindurch schlängelnd zwischen den grünen Saaten, die sich beugten und weithin wallten wie grünes Gewässer. Auch in der Kirche hatte es begonnen sich zu regen; der Meßner war geschäftig daran, die Kerzen auf dem Hochaltare zu entzünden, und ein leise gehauchter schwebender Ton zitterte durch die heilige Halle und verkündete, daß auch der Lehrer bereits auf dem Chore seinen Platz eingenommen hatte, um die Ankommenden mit den Feierklängen der Orgel zu empfangen.

Es währte nicht lange, so schritt der Zug an Wendel vorüber, der seinen Platz hart am Eingange der Kirche gewählt hatte, zuerst die Musiker und Fahnenträger, die ihre rothen Standarten den Linden in die grünen gastlichen Arme legten, der Pfarrer im weißen Chorrock, die Ministranten mit den rothen Kutten darunter, emsig die Klingeln handhabend oder das Weihrauchfaß schwingend, daß der Duft in ringelnden Wölkchen emporstieg zu denen des Himmels, die oben lustig vorüber zogen. Mächtig und voll erklangen die Glocken in das laute vielstimmige Gebet, von drinnen aber brauste majestätisch die Orgel heraus und auch ein minder fromm geartetes Gemüth hätte sich erhoben gefühlt und mit eingestimmt, wenn es in feierlichen Absätzen erscholl: „Heilig – heilig – heilig ist der Herr Gott Zebaoth; Himmel und Erde sind seiner Herrlichkeit voll!“

Der Wallfahrer waren viele und vielerlei Männer und Fraien, Kinder und Greise – vornehm und niedrig, arm und reich, manch’ ein Angesicht durchleuchtet von andächtiger Erhebung, manches gleichgültig, ohne Ausdruck und Gedanken den gewohnten Brauch übend und die lange gelernten Worte wiederholend. Zu den Ersteren gehörte ein Mädchen, das unter mehreren Altersgenossinnen einherschritt, durch nichts vor ihnen ausgezeichnet und doch die Bedeutsamste von Allen. Sie hatte die schönen blauen Augen nicht kopfhängerisch zu Boden gesenkt, sie hielt nicht die gefalteten Hände nonnenhaft empor, und doch stand es in jedem Zug ihres Angesichts zu lesen, daß sie vollkommen ergriffen war von der Feier des Augenblicks, daß ihre ganze Seele die Worte mitbetete, die sie sprach. Ihr Mieder war nicht anders, das Silbergeschnür daran nicht reicher als das der Uebrigen; sie trug denselben niedrigen und breitrandigen Hut, der damals noch in der ganzen Umgegend üblich war, seitdem aber von dem häßlichen Kopftuch verdrängt wurde, dennoch fiel sie unter Allen auf wegen der eigenthümlich ernsten Anmuth ihrer Züge, wegen ihres freudig entschiedenen Wesens, das sich an ihr kund gab und das ahnen ließ, es müsse auch in ihrem Innern Alles hell und klar sein wie ein Bergwasser, dem man sicher trauen darf, weil man ihm bis auf den Grund sehen kann.

Wendel, der sie schon von ferne gewahr geworden, erging es nicht anders; er fühlte, wie ihm das Blut mächtig zum Herzen und glühend zur Stirn drängte, und hätte er jetzt gleich vor sie treten müssen – der sonst so gewandte Bursche wäre ihr wohl ohne Rath und Wort gegenüber gestanden; es war recht gut, daß das Gedränge am Eingange den Zug etwas stocken machte, er gewann dadurch Zeit, die Sprache und sich selbst wiederzufinden.

„Grüß Gott!“ flüsterte er halblaut der Vorüberschreitenden zu. „Der Bauer schickt mich, daß ich Euch sagen soll, er sei voraus in’s Bergwirthshaus. Ihr sollt ...“

Er wollte noch mehr hinzufügen, aber das Mädchen ließ ihn nicht zu Ende kommen; so ruhig und freundlich ihre Augen eben geblickt hatten wie ein wolkenlos blauer Himmel, so gewitterhaft verfinsterten sie sich plötzlich und was ihm aus denselben entgegen kam, hatte vollständig die Wirkung des Blitzes. „Das hat wohl Zeit!“ rief sie in strengem Tone. „Ihr solltet Euch schämen, eine Störung zu machen in einem solchen Augenblick.“ ...

Wendel hatte vor Ueberraschung noch kaum recht verstanden, was er gehört, als die Zürnende schon innerhalb der Kirchthür verschwunden war – halb betäubt starrte er ihr nach; er sah die nach ihr Kommenden nicht mehr, er stand unbeweglich, bis drinnen vom Chore herab Trompetenruf und Paukenwirbel erscholl; der Priester war zum Beginn der Feier an den Altar getreten. Das schmetterte auch ihn aus seiner Betäubung auf und jagte ihn von der Kirche weg, in heftigem Kampfe mit sich selbst, was er beginnen solle. Er fühlte die Kränkung um so bitterer, als sie ihm offen vor der ganzen Menschenmenge angethan worden, als er, seines guten Willens bewußt, wie Alle, die ihren Weg durch sich selbst gemacht haben, einen erhöhten Grad von Selbstgefühl in sich trug, der jedes erfahrene Unrecht doppelt schmerzlich machte. Aber hatte Christel denn nicht das volle Recht, so zu handeln, wie sie gethan? War sie doch die Tochter, die einzige Tochter und darum bald selbst die Herrin des Hauses – was war es also, weshalb das schroffe Benehmen des Mädchens ihn so besonders empfindlich berührte?

Zum ersten Male hatte Wendel Anlaß, sich eine solche Frage zu stellen, und je schärfer und schärfer er zu ihrer Beantwortung in die Tiefen seines Herzens blickte, desto heller leuchtete ihm ein verborgener Funke gleich einer glimmenden Kohle entgegen, desto weniger konnte er es vor sich selbst verbergen, daß das Mädchen für ihn nicht die Herrin und die Tochter des Hauses und seine Ergebenheit für sie eine ganz andere war, als die eines treuen Dienstboten. Er erschrak vor sich selbst bei der unerwarteten Entdeckung und war rasch entschlossen, einen andern Dienst zu suchen und ein Haus zu verlassen, wo ihn, den armen Dienstknecht, doch nichts erwartete als stete stumme und hoffnungslos Qual, oder wenn sein Geheimniß jemals entdeckt würde, zu allem Leid noch ein aufgehäuftes Maß von Schmach und übermüthigem Spott.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 740. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_740.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)