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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

schönen Heimath, mit gehobenem Stolz auf seines Volkes blutig erkämpfte und männlich bewahrte Freiheit erfüllen. Deshalb führt die Schule den Zögling aus dem Hörsaal hinaus auf den offenen Plan, auf dem seine Altvordern einst gestritten; sie weist ihm die Trümmer der festen Burgen, die sie gebrochen; die Engpässe, die sie mit dem Beistande ihrer Frauen und Kinder vertheidigt; den Fels, von dem der beflügelte Pfeil die Brust des Tyrannen durchbohrt; das Feld, auf dem ein starkes Herz sich in die feindlichen Speere gestürzt, der Freiheit eine Gasse zu bahnen. Die großen Gestalten einer mächtigen Vergangenheit steigen so aus ihren ruhmvollen Gräbern empor und hauchen ihren Geist in die Seele des bewundernden Knaben. So wird lebendige Geschichte vorgetragen, eine Geschichte, deren Wahrzeichen eingegraben stehen in jedem Fels, in jeder Bergesschlucht, wo ewiges Zeugniß reden die starren eisgepanzerten Wälle mit ihren drohenden Zinnen und Thürmen.

Wie überall der Botaniker und Geologe seine Zuhörer hinausführt in den weiten Lehrsaal der Natur, so unterrichtet die Schweiz ihre Jugend in der Landeskunde, im weitesten Sinne dieses Wortes, durch die in neuester Zeit so sehr in Aufschwung gekommenen Schulfahrten, deren letzte von den Neuenburger Cadetten ausgeführte wir hier zu schildern unternehmen.

Um fünf Uhr Morgens, am 11. Juli 1869, wurde auf dem Bahnhof zu Neuchatel der Appell verlesen. Wir waren siebenundfünfzig Köpfe stark, ein halbes Hundert Schüler, die übrigen Lehrer. An unserer Spitze stand als erfahrener Feldherr der Präsident des städtischen Schulraths, Herr Dr. Guillaume. In der eidgenössischen Armee nimmt er freilich nur den bescheidenen Rang eines Bataillonsarztes ein; die Eigenschaft aber, daß unser Anführer die Wunden zu heilen versteht, die seine Helden schlagen oder empfangen, machte ihn uns nur um so kostbarer. Der Feldzug, den wir unternahmen, hatte übrigens durchaus keine kriegerische Aufgabe; ihre Waffen hatte die jugendliche Truppe mit friedlichen Alpenstöcken vertauscht, und der leichte Tornister barg wohl neben den unentbehrlichsten Reisebedürfnissen einen Wurstzipfel, vom zärtlichen Mutterherzen für besondere Fälle sorglich in eine stille Ecke eingebettet, doch sicher keine scharfen Patronen. Trotz alledem hatte die Mannschaft etwas entschieden Militärisches, als sie, ihre sieben Spielleute mit blinkenden Trompeten voran, in kleidsamer Uniform, auf das Commandowort ihres sechszehnjährigen Lieutenants vor dem bereitstehenden Zuge aufmarschirte. Im Nu war der uns angewiesene Waggon besetzt und fort rollte es in südlicher Richtung.

Kein Jubelruf, kein fröhliches Jauchzen, wie ich es wohl erwartet hatte, da die seit Wochen geplante Fahrt nun endlich zur Wirklichkeit wurde. Eine fast feierliche Stimmung lag auf den Herzen, es galt freilich nichts Kleines: eine Fahrt von längerer Dauer als jede vorhergegangene, über Schnee und Eis, eine Fahrt in die Alpen! – Wohl brauchte es eine gute Weile, ehe sich die jungen Gemüther an den Gedanken gewöhnten, daß der Traum nun zur Wahrheit geworden. Aber nach und nach brach sich der Bann –: „wir fahren, wir fahren!“ das war der Jubeltext, der schüchtern erst, dann deutlicher und heller über die Lippen drang, ein buntes Geplauder, ein neckendes Zwiegespräch erwachte auf allen Bänken; mit einem kräftigen Marsch setzen plötzlich die sieben Trompeter ein, und hurrah! Jetzt freilich herrscht kein Zweifel mehr: wir fahren, wir fahren!

Schon bei früheren Ausflügen hatte man für die erste Strecke die Eisenbahn benutzt. Hier in Granson, dessen epheuumrankter Kirchthurm uns eben entgegewinkte, war man vor zwei Jahren ausgestiegen und ein gelehrter Obristlieutenant vom eidgenössischen Generalstab hatte mit den Cadetten das Schlachtfeld besucht, auf dem vor vier Jahrhunderten Karl der Kühne eine so blutige Niederlage erlitten. Damals ging es zu Fuß nach Yverdon, dann um den Neuenburger See herum nach dem Schlachtfeld bei Murten. Heute heißt es die Kräfte sparen zu bevorstehenden größeren Unternehmungen, fort rollt es und weiter, und wie in einer Spatzenhecke wird es fröhlich und lebendig in dem Waggon. Dazu blasen die Sieben ihre schönsten Melodien und den Alten lacht das Herz im Leibe über die Freude der Jungen.

Auf der Höhe des Jorat, der Wasserscheide des Mittelmeer- und des Nordseegebiets, drängen die Köpfe sich an die Wagenfenster; nicht weit von Lausanne endlich tauchen die schöngeformten Linien der Savoyer Alpen herauf und ein Freudengeschrei begrüßt den mit Spannung erwarteten Genfersee.

In Lausanne wird der Aufenthalt von einer Stunde zur Prüfung der im Tornister verborgenen eßbaren Herrlichkeiten benutzt, denn das Reich des Proviant- und Zahlmeisters beginnt erst am Ziele unserer Eisenbahnfahrt. Außer dem Beitrag für die letztere, die sich auf ungefähr drei Franken für den Theilnehmer belief, hatte Jeder für die auf fünf Tage berechnete Fahrt zehn Franken eingezahlt, eine Summe, welche für einen fremden Touristen etwa zu einem Nachtquartier und Frühstück ausreicht. Freilich hatten wir von vornherein auf das Vergnügen verzichtet, mit Lord Rumpsteak und Lady Butterfly an der Table d'hôte zu sitzen und uns von deutschen Jünglingen in schwarzem Frack und weißer Cravatte bedienen zu lassen. Mit Ausnahme von Bex, unserer ersten Station, sollte der Heuboden unsere Schlafstätte und der gute Appetit unser Kellner sein.

Hier ist es am Orte, unsern Feldzugsplan einen Augenblick zu betrachten. Wir hatten die Aufgabe, von Bex im Rhonethal aus, wohin die Eisenbahn uns ohne Aufenthalt beförderte, den nordwestlichen Ausläufer der Kette des großen Muveran und der Dent de Morcle zu erreichen, von dort aus an die südöstlichen Abstürze der Diablerets zu gelangen, den Pas de Cheville zu überschreiten, dann, den Saumpfad verlassend, der wieder zurück in’s Rhonethal nach Ardon und Sitten führt, einen Uebergang nach dem Sanetschpaß zu suchen, von dort hinabzusteigen in’s Saanenthal im Canton Bern, um dann den Heimweg über Chateau d’Oeux, Freiburg und Murten anzutreten. Der vornehmste Zweck des Unternehmens war, die Schüler, welche in ihrer Mehrzahl auf dem Jura zu Hause waren, mit der Alpennatur, ihren Schönheiten und Schrecken bekannt zu machen.

Gegen Mittag verließen wir die Waggons in Bex und zogen mit schmetternder Fanfare in das kleine Städtchen, wo uns die Spitzen der Einwohnerschaft freundlichst empfingen und aufforderten, für die Nacht Quartier anzunehmen und am nächsten Tage dem Schul- und Cadettenfest des Ortes beizuwohnen. Diese Einladung wurde dankbar angenommen, da sie vortrefflich zu unserem Plane stimmte, wonach wir den ersten Tag zu einem Ausflug in die Umgegend von Bex zu benutzen gedachten.

Im Hôtel de l’Union, in dessen Garten wir die Tornister ablegten, wurde das erste gemeinsame Mittagsmahl bestellt. Auf Anordnung des Obercommandos sollte dabei, trotz mancher Einwendung des gutmüthigen Wirths, jeder Luxus vermieden werden; für solchen galten selbst Tische, Bänke und Teller. Ein halbes Dutzend mächtiger Schüsseln wurden auf den Rasen gesetzt, Löffel herumgereicht, und nun suchte Jeder sich einen Platz um die dampfende Kässuppe, liegend, knieend oder auf einem Tornister hockend, und schöpfte von der nährenden Speise, so viel ihm beliebte oder die neckenden Nachbarn ihm zukommen ließen. Es wurden Alle gesättigt. Ein feines Bürschchen, „guter Eltern Kind“, machte zwar die unehrerbietige Bemerkung, daß ihm der Käse ohne die Suppe, oder die Suppe ohne den Käse lieber wäre; aber er bewies damit nur, daß seine Wiege nicht zwischen Jura und Alpen gestanden. - „Mit einer solchen Suppe ginge ich bis Rom,“ rief Freund Bachelin, dem wir eine Skizze dieses Festmahls verdanken, dem Muttersöhnchen mit sittlicher Entrüstung zu. Jeder Versuch einer weiteren Kritik war damit glücklich abgeschlagen.

Der Nachmittag wurde zu einem Spaziergang nach den Salinen benutzt, die etwa anderthalb Stunden von Bex entfernt sind. Kurz vor dem Ziel machte man Rast auf schattigem Wiesengrunde. Vor uns lag sonnenbestrahlt in schimmernder Pracht die weiße, weithin leuchtende Dent du Midi; zu unserer Linken streckte die Dent de Morcle ihre zerklüfteten Flanken hinab in’s Thal. Hier war der Ort, sich mit den jungen Leuten über die gewaltigen Erdumwälzungen zu unterhalten, deren Zeugen uns rings umgaben. Es geschah dies weniger in Form eines Vortrages als in der eines Gesprächs, an welchem mehrere Lehrer sich gegenseitig ergänzend betheiligten. Nun erst wurde der Besuch der Saline, deren Existenz mitten in einer Alpenschlucht zu vielen Fragen Veranlassung geben mußte, wahrhaft fruchtbringend.

Diese Salinen standen eine lange Reihe von Jahren unter der Direction Charpentier’s, des Begründers der Gletschertheorie. Er gehörte der berühmten Geognostenfamilie Charpentier in Freiberg in Sachsen an, und Deutschland darf ihn mit Recht zu denjenigen seiner Söhne zählen, welche ihr Vaterland in der

Fremde ehrenvoll vertreten haben. Seinem wissenschaftlichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 781. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_781.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2022)