Verschiedene: Die Gartenlaube (1869) | |
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Fahrwegs. Schlanke, blasse Engländerinnen und blitzäugige
Töchter des Südens haben aus ihren Pensionen in Bex sich
hinauffahren lassen und entfalten die neuesten Moden und einen
glänzenden Appetit in der frischen Alpenluft. Nach dem Mahle
geben die Cadetten von Bex ein militärisches Schauspiel, sie
exerciren im Feuer und tausendfältig hallt aus den wilden
Schluchten des Gebirgs das Echo ihrer harmlosen Schüsse wider.
Hier drehen die Mädchen sich im Tanze, dort in einem fernen
Winkel, neben einer halbzerfallenen Sennhütte, hat sich ein Dutzend
wackerer Waadtländer zu einer ungebundenen Kneiperei
zusammengefunden. Mitten auf dem weiten Plan ist nach Schluß der
Cadettenübung ein hoher Felsblock zur Tribüne auserwählt worden,
warme patriotische Reden erklingen, ein telegraphischer Gruß an
das eidgenössische Schützenfest in Zug wird vorgelesen, feurige
Hochs erschüttern die Lüfte. Wir aber lassen zur Sammlung
blasen, noch einige Worte aufrichtigen Danks an die guten
Eidgenossen von Bex, noch ein Glas zum Abschied, noch ein
begeistertes „qu’ils vivent!“ Unsere sieben Trompeterlein blasen
ihren rauschendsten Festmarsch und wir ziehen von dannen, während
uns noch lange die Echos der Jugendlust auf unserm steilen
Wege begleiten.
Für uns war es hohe Zeit zum Aufbruch gewesen, denn vor Sonnenuntergang sollten wir unser Nachtquartier am Fuße der Diablerets erreichen, und es war vier Uhr Nachmittags. Jetzt wurde die Fahrt erst ernsthaft, wir hatten vor dem Abend des folgenden Tages auf kein wirthliches Unterkommen mehr zu zählen. Das Brod, welches für uns in les Plans gebacken worden, wurde jetzt vertheilt; sechszig Pfund Fleisch trug ein Führer, den wir in Bex gedungen – so ausgerüstet durften wir uns schon in die Einöde des Col de Cheville und des Sauetschpasses wagen.
Während anderthalb Stunden hatten wir streng zu steigen, ehe wir die höhere Thalstufe erreichten, welche den Namen la Varra führt und in einer Ausdehnung von beinahe zwei Stunden nur wenige Sennhütten aufweist. Doch ehe wir zu den letzteren gelangten, wurde einer der Cadetten krank gemeldet. Der arme Junge sah recht blaß aus, als er sich ruhebedürftig auf den Boden hinstreckte und den Kopf auf den Tornister legte. Ein erfrischender Trunk war im Augenblick nicht zur Hand. Da erspähte unser Doctor und Feldhauptmann eine Ziegenheerde und ließ Jagd auf eines der Thiere machen, um dem Kranken mit etwas Milch wieder aufzuhelfen. Für die Kleinsten der Kleinen war diese Jagd natürlich ein Fest, sie brachten auch sogleich mehrere Gefangene an den Hörnern herbei. Das erste Thier freilich stellte sich zum allgemeinen Jubel als ein Böcklein dar, das nächste war dann glücklicherweise eine Ziege, die sich von den geschickten Fingern des Arztes, wenn auch nicht ohne Sträuben, melken ließ. Der Kranke war von dem heilsamen Trank, wenn auch in einem Pommadetopf gereicht, bald hergestellt und schritt munter mit den Anderen weiter. Nach jeder etwas größeren Anstrengung wurde übrigens regelmäßig Halt gemacht und einige Minuten geruht. In solchen Momenten zeigte der Eine und Andere, was ihm etwa auf seinem Wege aufgestoßen:
„War’s eine schöne Alpenblume, war’s
Ein seltner Vogel oder Ammonshorn,
Wie es der Wandrer findet auf den Bergen.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_783.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2022)