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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Die Philosophie der Utopier ist eine Glückseligkeitslehre, die hart an Epikur’s Wonnedienst grenzt. Ihnen ist das Glück das zu erstrebende Ziel des Menschendaseins, und der sicherste Weg es zu erreichen ist ein Leben gemäß der Natur. Sowie sie alle falschen Freuden verachten, worunter Morus den Putz, den Stolz auf Adel und hohen Stand und die Jagd anführt, welche dort nur von Sclaven geübt wird, sowie auch das Fleischerhandwerk: so halten sie alle unschuldigen und unschädlichen Genüsse des Geistes und der Sinne nicht nur für erlaubt, sondern auch für erstrebenswerth. Ein bußfertiges Leben erscheint ihnen verwerflich; sich „um eines eiteln Schattens der Tugend willen“ zu peinigen, ohne irgend Jemandem dadurch wohlzuthun, das gilt bei ihnen „als Raserei, als Grausamkeit des Geistes gegen sich selbst und als Undankbarkeit gegen die Natur, deren Gaben man entsagt, als ob man verschmähe ihr Schuldner zu werden.“

So weit der Inhalt dieses merkwürdigen Buches, dem man schwerlich anzusehen vermöchte, daß es im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts geschrieben ist; allenfalls nur durch seinen Wunderglauben verräth sich der Verfasser als ein Mann seiner Zeit, doch sind von diesem ja die hellsten Köpfe auch neuerer Zeiten keineswegs immer frei gewesen. Sonst erscheint die großartige Freiheit und Kühnheit seiner Weltanschauung nirgend durch nationale, gesellschaftliche oder dem Geist seiner Zeit eigenthümliche Vorurtheile eingeengt, vielmehr stoßen wir überall auf Grundsätze und Ansichten, die wir als charakteristisch für spätere Jahrhunderte anzusehen gewohnt sind. Morus ist ein Vorläufer der Socialisten und Communisten des neunzehnten Jahrhunderts, ohne aber den bei ihnen so häufigen rohen Haß gegen höhere Cultur, gegen Kunst und Wissenschaft zu theilen; und er überbietet, wenn möglich, noch die Manchesterschule an Friedensliebe und Verachtung des Kriegshandwerks. Er überrascht uns nicht weniger durch seine religiösen Ansichten. Sein allem specifisch kirchlichen Wesen (und offenbar nicht blos dem Mönchthum, sondern auch der Geistlichkeit überhaupt) abholder Rationalismus, seine Empfehlung einer unbedingten Toleranz, seine Verdammung nicht blos des Fanatismus, sondern selbst des geistlichen Bekehrungseifers – alles dies ist eben so sehr im Geiste des achtzehnten Jahrhunderts, als es dem sechszehnen fremd erscheint.

Wenn auch die Utopia im Wesentlichen die freie Schöpfung eines originellen Denkers ist, so hat doch Morus sichtbar die Anregung dazu von Plato empfangen; auch das platonische Staatsideal beruht auf der Aufhebung aller Privatinteressen durch Aufhebung des Privateigenthums, daher auch Plato den Gebrauch des Goldes und Silbers aus seinem Staat ausschließt und gemeinsame Mahle und Behausungen vorschreibt. Ebenso schwebte bei der Verlegung seines Idealstaates auf eine fabelhafte Insel im fernen Westmeer Morus eine Platonische Phantasie vor Augen. Plato spricht zwei Mal von einer ungeheuern Insel im atlantischen Ocean, Atlantis, die größer war als Asien und Afrika zusammen, aber, als ihre Bewohner in Lastern entarteten, an einem Tage und in einer Nacht durch Erdbeben und Ueberschwemmungen vernichtet, im Meer versank. Auch diese Atlantis war eine reine Phantasie. Ihre Bevölkerung stammte von dem Meergotte Poseidon, das Land war eine Art Paradies, in dem alle nützlichen Pflanzen und Thiere in unermeßlicher Fülle vorhanden waren, unter den letzteren nennt Plato ausdrücklich Elephanten. Tempel und Paläste prangten in Feenpracht. Lange Zeit lebte das dortige Volk seinen Gesetzen gehorsam, als es aber in Ueppigkeit und Schwelgerei fiel, brach jene Katastrophe herein.

Von neueren communistischen Schriften ist Cabet’s „Reise nach Ikarien“ (zuerst 1840 erschienen) dem Werke des Thomas Morus am nächsten verwandt. Auch hier kündigt sich schon durch den Namen ein Utopien an; auch in diesem Idealstaat giebt es kein Eigenthum und kein Geld, keine Standesunterschiede; alle, selbst Fragen der Religion werden durch allgemeines Stimmrecht entschieden. Auch hier sind Ehe und Familie heilig, nur daß die Frauen in den gemeinschaftlichen Werkstätten arbeiten. Die Strafen bestehen in dem allgemeinen Bedauern des Verbrechers etc. Und für die Verwirklichung dieses Ideals setzte Cabet seine ganze Thätigkeit ein. Thomas Morus übertrifft ihn und andere Apostel des Communismus nicht blos an Originalität, sondern auch an Klarheit: er wußte sehr wohl, daß Utopien nicht in der wirklichen Welt liegen könne.




Bei der Verfasserin der „Gold-Else“.

Auch dieses Jahr zur Sommerfrische wieder nach Thüringen, das stand fest, nach jenem Stück deutscher Erde, dessen sonnige Berge und prächtige Wälder mit ihrem unsagbaren Reiz schon so viele tausend Herzen bestrickt haben und dessen poetischer Zauber wieder in alle Welt verkündet worden ist durch die E. Marlitt’schen Romane, die sich auf diesem Boden abspielen.

Das Soolbad Arnstadt, Marlitt’s Geburtsort, stand ohnehin auf meiner Reiseroute verzeichnet; es lag daher der Wunsch so nahe, daß es mir vergönnt sein möchte, das Bild, welches sich mir aus ihren Werken und aus dem von der Gartenlaube gebrachten Holzschnitt aufgedrängt hatte, bei einem persönlichen Begegnen zu vervollständigen und so eine schöne Erinnerung mit heimzubringen, die mir eine Freude sein sollte für so manchen kommenden düstern Wintertag. Der Wunsch, als Besuchender an Marlitt’s Thür anzuklopfen, ward bald zum festen Entschluß, trotz des hin und wieder vernommenen Munkelns, wie unmöglich es sei, bei ihr vorgelassen zu werden.

Schon im Hôtel, in dem ich bei meiner Abkunft abgestiegen war, sah mich der Wirth, ein junger, wohlgenährter Gentleman, auf meine Frage nach der Wohnung der Schriftstellerin mit einer plötzlichen Wendung des Kopfes so zweifelhaft lächelnd an, daß ich seiner Versicherung, sie lebe absolut abgeschlossen von aller Welt nur im Kreise ihrer Familie, kaum bedurft hätte.

„Sie zu besuchen, haben trotz meiner Versicherung schon Hunderte versucht,“ fügte er hinzu, „und sind, ohne ihren Zweck erreicht zu haben, wieder abgereist.“

Das klang nun freilich nicht sehr erbaulich; allein das Vertrauen auf meinen guten Stern und auf das stolze Aushängeschild, unter dem ich mich, wenn alle Stricke rissen, einzuführen entschlossen war – und das war kein geringeres als das eines „Mitarbeiters der Gartenlaube“ – gaben mir wenigstens den Muth, das Aeußerste zu thun.

Auf gut Glück schritt ich die wenigen Häuser bis zum Thor entlang und gewann das Freie. Vor mir den bergaufsteigenden Buchen- und Eichenwald, an Gärten und neuerbauten freundlichen Häusern vorbei, fand ich bald, von einem Arbeiter zurecht gewiesen, das reizend auf der Sohle des engen Thales gelegene Haus, in welchem zur Zeit die Dichterin der „Goldelse“, des „Geheimnisses der alten Mamsell“ und der „Reichsgräfin Gisela“ ihr hartnäckiges rheumatisches Leiden mit dem Lächeln echt weiblicher Ergebung und mit der Ruhe einer großen Seele trägt, die über den freien Flügelschlag der Gedanken die schmerzenden Glieder zu vergessen vermag.

Und mein Wirth hatte nicht Unrecht. Empfangen vom Bruder der Autorin, in dessen Familie sie sammt ihrem ehrwürdigen greisen Vater lebt, mußte ich anfangs freilich hören, wie es factisch unmöglich sei, ein Begegnen mit ihr zu vermitteln, und erst nachdem ich das ganze Geschütz meiner Ueberredungsgabe in’s Feuer geführt und auch nicht unterlassen hatte, schließlich das besondere Vorrecht der „Mitarbeiterschaft“ nachdrücklich zu betonen, gelang es mir, wenigstens den Bruder zu bestimmen, seiner berühmten Schwester meinen sehnlichen Wunsch mitzutheilen.

Ich hatte, während sich derselbe zu diesem Zweck nach ihrem Arbeitszimmer begab, Muße genug, den einfach, aber überaus sinnig geschmückten Salon zu durchmustern. Da hingen in schöner Gruppirung die photographisch ausgeführten Gestalten lieber, der Dichterin an das Herz gewachsener Persönlichkeiten. Da hing das große, im Mathaus’schen Atelier zu München prächtig ausgeführte Bild der geschiedenen regierenden Fürstin von Schwarzburg-Sondershausen, welche, die vielseitige Begabung des damals jungen Mädchens erkennend, in wahrhaft fürstlicher Weise für ihre umfassende gründliche Bildung Sorge trug, wenn auch zunächst ihrer schönen Stimme wegen für die Bühne. Die Zeitungen haben ja bereits berichtet, daß ein Gehörleiden diese Laufbahn im Keim erstickte. Dieser Photographie gegenüber hing Marlitt’s eigenes, und so weit ich urtheile, wohlgetroffenes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_827.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2022)