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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Ein Begegnen in den oberbairischen Bergen.

Von Dr. Karl Stieler.

Es mochte Ende October sein, wo der Reif schon auf dem Felde liegt und der Schritt härter hallt, als sonst. Ich war tief in den Bergen gewesen, in einer jener Winterstuben, die die Holzknechte bewohnen. Erst um Mitternacht kehrte ich heim. Der Weg, der etwa drei Stunden betrug, führte anfangs durch den Wald, dann stieg man an’s Ufer des Tegernsees hinunter, auf dessen anderer Seite unser Haus stand. Ich würde lügen, wenn ich behaupten wollte, daß dieser Spaziergang sehr behaglich war; allein die Nacht schien wenigstens sternenhell, der Mond zeigte das erste Viertel. Eilig und wachsam zog ich des Weges. Finstere Tannen standen zu beiden Seiten, die scharfe Luft zog mir um’s Gesicht, und in den Zweigen knisterte es leis, wenn Blatt um Blatt zu Boden fiel. Oft blieb ich stehen und horchte, dann und wann ertönte der Schrei eines Nachtvogels durch die lautlose Stille. Es ist merkwürdig, wie die Sinne sich anspannen, wie Auge und Ohr sich schärft, wenn einer allein durchs Dunkel geht.

Mit einem Mal hörte ich Tritte hinter mir – zu sehen war noch Niemand. Ich hatte einen guten Schritt, aber mein Nachfolger einen noch besseren, und es dauerte nicht lange, bis er mich erreichte. Mit rauher Stimme rief er mir Gute Nacht entgegen. Es war eine Gestalt im gewöhnlichen Bauernkostüm, nur etwas mehr gedrungen und finsterer, als die meisten sind. Ueber den Schultern trug er den Rucksack, in der Hand eine breite Hacke, die ganze Figur hatte etwas kriminelles, selbst ohne die Finsterniß. Wie eine Ironie klang die „Gute Nacht“ von seinen Lippen, denn mir wenigstens war sehr übel dabei zu Muthe.

Es verstand sich von selber, daß wir nun miteinander gingen. So ungemüthlich es ist, wenn man bei Nacht allein durch die Berge geht, so schien es mir doch, daß ich eine Gesellschaft gefunden, die noch weit ungemüthlicher war. Unwillkürlich stellte sich eine gewisse Ideenverbindung zwischen der Hacke und meiner Hirnschale ein, und mit einiger Unruhe maß ich mit jedem Schritte den Begleiter.

Was mir an ihm vor Allem auffiel, das war ein gewisser rabiater Ton, der sonst nicht im Charakter des Bauern liegt. Denn dieser ist gegen Unbekannte viel eher reservirt, als gesprächig und mehr zur Bescheidenheit als zum Pathos geneigt. Im Uebrigen sprach der Bursche ganz vernünftig; stellenweise hatte er sogar etwas Flottes, Chevalereskes in seinen Ansichten. Nur ein einziges Mal fiel ein Wort, das mir ein düsteres Licht auf seinen Charakter warf. Als die bleichen Felsen der Halserspitze herüberragten, deutete er mit der Hand nach denselben und sprach: „Da drinnen liegt auch Einer, den ich eingethan hab’.“ Und dabei machte er eine Bewegung, wie der Schütze, wenn er zielt. Ein leiser Schauder überrieselte mich, denn das Wort konnte ja dem Burschen bitterer Ernst sein, daß er ganz offen davon sprach.

Schweigend gingen wir neben einander; wenn er Etwas behauptete, gab ich ihm Recht; kurz, ich war so „liebenswürdig“ als möglich. Nur als der See kam, dessen Ufer steil in die Tiefe fallen, trat ich heimlich auf die andere Seite. Endlich nahte sich unser Haus. Es war mir bedenklich genug erschienen, mit dem Burschen zusammenzutreffen, aber noch bedenklicher erschien es mir, mich nun von ihm zu verabschieden. Sollte ich ihm verrathen, wo ich daheim sei? Sollte ich die Hausthür in seiner Gegenwart aufschließen? Wenn der Hallunke etwas im Schilde führte, dann war jetzt der Augenblick gekommen.

Mein Herz pochte, als ich vor dem niedrigen Gartenthore stand. „So, da bist Du daheim?“ sprach Jener; „dann bist Du wohl gar einer von den Stielerbuben?“

„Jawohl, der bin ich,“ war die Antwort. „Und wo bist denn dann Du daheim, damit wir uns doch kennen, wenn wir wieder zusammenkommen?“

Der Angeredete brach in ein räthselhaftes Lachen aus und sagte: „Franzl heiß’ ich – gute Nacht.“

Damit trottete er von dannen, ich aber warf die Thür zu, und immer war mir’s, als ob der Franzl sich durch die Spalte hereindrängte und hinter mir die Treppe empor stiege. Es war halb zwei Uhr Nachts.

Am andern Morgen lief in der Tegernseer Gegend das Gerücht um, der Wiesbauerfranzl sei wieder da; er sei aus der Frohnveste ausgebrochen und über Lenggries zurück in’s Gebirg gekommen.

Ein unbehagliches Grauen befiel mich, es war kein Zweifel, daß ich gestern die Ehre gehabt, in seiner Gesellschaft nach Hause zu kehren. Die Beschreibung der Persönlichkeit, sein Lachen, sein Abschied, all’ das deutete darauf hin. Also in der Frohnveste war mein neuer Freund von Rechtswegen zu Hause!

Franzl war der Sohn eines armen abgehausten Bauern aus dem Bezirke Miesbach und hatte schon frühe seine criminellen Anlagen verrathen. Oftmals wegen Wilderns bestraft, war er von diesem poetischen zum gemeinen Diebstahl übergegangen und von da zum Raube. Eine Art von unheimlicher Furcht, welche sonst die Leute dieser Gegend nicht kennen, verbreitete sich um seinen Namen. Nirgends hielt er sich auf, aber überall war er da; Niemand wußte seine Wege, aber jeder fürchtete sie. Dies Gefühl erzeugte einen wahren Terrorismus. Mitten in der Nacht erschien der Franzl, klopfte an’s Haus und weckte die Leute. Dann mußte die Bäuerin aufstehen und Feuer anzünden, um eine Mahlzeit zu kochen, er aber saß plaudernd am Heerde und sah ihr zu. Er stahl nicht, um zu stehlen, nur wenn er Etwas brauchte und nur so viel er brauchte, begehrte er. In den meisten Fällen ward es ihm gutwillig gegeben, denn seine Kühnheit schüchterte die Leute ein. Dann benahm er sich wie ein Gast, ward leutselig und gemüthlich, und that als ob er zu Hause wäre. Niemals nahm er von solchen, denen das Geben sauer ward, allein wenn die Reichen sich weigerten, so drohte er mit den fürchterlichsten Flüchen, daß er den rothen Hahn auf’s Dach setzen und das ganze Dorf zusammenbrennen werde. Er war eine echte Räubernatur: großmüthig und grausam, wie es gelegen kam.

Erst nach langer Mühe war man seiner habhaft geworden und hatte ihn in die Frohnveste der Hauptstadt abgeliefert. Doch seiner verzweifelten Entschlossenheit gelang es, zu entfliehen, indem er sich durch sämmtliche Stockwerke herunterließ. Unten angelangt, gewann er das Freie und entkam in die Berge, in denen es zum allgemeinen Entsetzen hieß: Der Wiesbauerfranzl ist wieder da! Es war mir fatal, daß er nun auch mich zu seinen Freunden zählte; denn ich fürchtete, er würde die neue Bekanntschaft ausnützen und sich eines schönen Abends zum Souper (en petit comité) einladen.

Und wirklich machte er mir bald einen neuen Schrecken. Ich war allein im Hause und saß noch Abends bei der Lampe, da kam mit einemmal die alte Dienerin gerannt und flüsterte entsetzt: „Denken Sie nur, draußen auf den steinernen Staffeln der Hausthür sitzt schon seit einer Viertelstunde ein Kerl; ich hab’ durch’s Küchenfenster hinausspeculirt, und fürchte, es ist der Wiesbauerfranzl. Jesus, Maria und Joseph,“ setzte sie hinzu, „jetzt wird er noch anklopfen und hereinwollen.“

Schrecken und Neugier waren gleich mächtig, und so stieg ich denn die Treppen empor, lautlos und ohne Licht. Oben wollte ich das Fenster öffnen und hinabspähen, denn vielleicht war es doch nur ein harmloser Handwerksbursche, der diesen unentgeltlichen Ruheplatz benützte.

Trotz der äußersten Sorgfalt hörte der Fremde, daß sich die Scheiben bewegten, und indem er den Kopf zurücklehnte, sah er regungslos und wortlos zu mir empor. Es war dieselbe Gestalt wie neulich’, es war der Wiesbauerfranzl. Um das Risiko zu vermindern, ergriff ich die Initiative. „Möcht’st was, Franzl, soll ich Dir was hinaustragen, wann D’ Hunger hast?“ – rief ich mit künstlicher Zärtlichkeit dem Gauner zu. Er aber erwiderte mit stoischem Kopfnicken „Dös braucht’s nit, Karl, ich hab’ schon g’futtert heut’ und muß noch weiter. Bloß rasten möcht’ ich a wenig.“ Kurz darauf erhob er sich und ging von dannen.

Unterdessen kam der erste Schnee; ich schloß meine Sommersaison und zog zurück in die Stadt; draußen aber geisterte mein Freund herum und fuhr fort zu requiriren. Wie es ihm dabei ergangen ist, erfuhr ich erst, als ich später einmal wiederkehrte.

Eines Tages, nachdem er Siesta gehalten, fiel er doch den Häschern in die Hände. Im Triumph ward er an das Gefängniß des Landgerichts abgeliefert, und Jedermann athmete

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_830.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2022)