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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Doctor Reinhard.


(Schluß.)


Anderthalb Jahre waren bereits seit Adalbert’s Tode hingegangen, und noch immer hatte die Zeit die Spuren der erlittenen Erschütterungen nicht bei Eva zu tilgen vermocht. Ihr Gemüth konnte sich nicht wieder von dem Schlage erholen, und gleichzeitig kränkelte auch ihr Körper, so daß von der früheren frischen Heiterkeit ihrer Mädchenjahre kaum noch etwas übrig geblieben war und Niemand die einst so blühende Eva in der bleichen jungen Frau mit den schwermüthigen Augen wiedererkannt haben würde. Schön war sie aber immer noch, vielleicht schöner als je, und Niemand konnte den Blick ohne Theilnahme der rührenden Gestalt zuwenden, auf der ein so schweres Schicksal lastete. Zwar hatte ihre jetzige Umgebung jene traurigen Ereignisse nicht mit ihr durchgelebt, denn Eva war nicht mehr nach der Hafenstadt zurückgekehrt, sondern nach einem ziemlich entfernten Orte gezogen, in dessen Nähe weitläufige Verwandte von ihr lebten; aber der Ruf hatte jene Vorfälle dorthin getragen, und man wußte allgemein, daß die Trauer, welche die junge Frau kaum abgelegt hatte und die sich noch mehr in ihrem ganzen Wesen verrieth, dem auf entsetzliche Weise herbeigeführten Tode eines geliebten Gatten galt, der sie allein und schutzlos in der Welt zurückgelassen hatte.

Mit den oben erwähten Verwandten war Eva früher wenig bekannt gewesen; doch hatte es sie in ihrer Verlassenheit getrieben, sich ihnen anzuschließen, da sie aller näheren Verwandten beraubt war und sich ihr armes, krankes Herz unsäglich nach Liebe und Theilnahme sehnte. In der That hatte sie auch eine überaus herzliche Theilnahme gefunden, und bald war es ihr ein gar wohlthätiges Gefühl, daß sie mit ihrem Leben nicht mehr allein auf sich selbst angewiesen war. Der Gedanke, es den Wünschen, ja dem Willen Anderer unterordnen zu dürfen, war ihr in mancher trüben Stünde ein Trost und ein Schutz gegen die sich ihr oft zu ihrer Qual aufdrängende Frage: „Wozu überhaupt noch leben?“ Sie zeigte sich darum auch freundlich – nachgiebig bei Allem, was ihre Freunde von ihr verlangten, namentlich bei dem, was sich auf die Stärkung ihrer Gesundheit, die diesen ernstliche Sorge machte, bezog. In diesem Jahre war es die allgemeine Forderung gewesen, der sich auch die des Hausarztes W. anschloß, daß Eva ein Bad besuchen sollte, und es war ihr ein nicht weit entlegenes vorgeschlagen worden. Freilich hatte sie anfangs mit einem halb wehmüthigen Lächeln gesagt: „Wozu denn das Alles? Ich fühle kein körperliches Leid, und für Das, was mir etwa fehlt, giebt’s wohl keinen Gesundbrunnen!“ Aber gefügt hatte sie sich doch, und so war sie jetzt mit dem Beginne des Sommers nach P., jenem gedachten Badeorte, gereist.

Es war am Morgen nach ihrer Ankunft, und sie erwartete in ihrem Zimmer den Besuch des Badearztes, den ihr Doctor W. als einen vorzüglichen Collegen gerühmt hatte, unter der Bemerkung, daß er selbst an ihn schreiben und ihm Eva zu besonders sorgfältiger Behandlung empfehlen wollte. Den Namen hatte dieser ihr zufällig nicht genannt, und auch, als ihr jetzt sein Eintreffen gemeldet ward, hatte sie denselben nicht vernommen; darum fuhr sie erschreckt und verwirrt empor, als er in’s Zimmer trat.

„Reinhard, Sie hier?“ stammelte sie.

Er trat freundlich und unbefangen auf sie zu und sagte: „Ich freue mich des Wiedersehens, Eva; aber Sie, Eva, wußten Sie nicht, daß Sie mich hier als Brunnenarzt finden würden?“

„Nein, ich wußte es nicht!“ sagte sie leise.

Er betrachtete sie einige Augenblicke schweigend, wie sie mit gesenkten Blicken vor ihm stand, und sagte dann:

„Doctor W. hat mir geschrieben – wollen Sie sich meiner Behandlung anvertrauen, Eva?“

Sie schlug die Augen fast lächelnd zu ihm auf, und er vermißte nicht das Wort, das ihn ihres unbegrenzten Vertrauens versichert hätte.

„Aber ich bin nicht krank – nur müde!“ sagte sie.

Wieder sah er sie einige Secunden lang prüfend an und sagte dann ernst:

„Wenn wir gesund sind, Eva, erlaubt uns das Leben auch nicht, müde zu werden! Nehmen Sie darum immerhin ärztlichen Rath an,“ fuhr er in freundlicherem und heitrerem Tone fort, „und der geht vor allen Dingen dahin, daß Sie sich ein wenig mehr in die Strömung des Lebens wagen, damit auch die eigenen Pulse wieder rascher klopfen lernen. Haben Sie Freunde und Bekannte neben sich oder überhaupt am hiesigen Orte?“

Eva schüttelte den Kopf. „Ich bin ganz allein!“ sagte sie.

„Nun, dann erlauben Sie mir, daß ich selbst sofort eine Bekanntschaft vermittle, die nicht ohne Interesse für Sie sein dürfte, und die vielleicht nur erneuert zu werden braucht; denn die Dame, von der ich spreche, stammt aus Ihrem Geburtsorte. Kennen Sie die Generalin Kerstein?“

Eva zuckte unwillkürlich zusammen: sie wußte, daß der Name von der ehemaligen Emilie Waldow geführt wurde.

„Nur wenig!“ sagte sie gepreßt. „Sie ist einige Jahre älter als ich und zählte bereits zu den Erwachsenen, als ich noch ein Kind war. Später haben wir uns ganz aus den Augen verloren und ich weiß nur, daß sie schwere Schicksale gehabt hat.“

„So haben Sie also auch von jener unglücklichen Ehe gehört, in der sie jahrelang geschmachtet hat? Dieselbe sollte gelöst werden, als der Tod dazwischen trat und sie zur Wittwe machte. Was sie überhaupt bewogen hat, dem alten und als tyrannisch bekannten General ihre Hand zu reichen, weiß ich nicht; jedenfalls aber hat sie den Irrthum schwer gebüßt und wäre eines besseren Schicksals werth gewesen; die Ueberzeugung habe ich gewonnen, seit ich näher mit ihr bekannt geworden bin.“


Michael Bakunin.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_057.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)