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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Nachdem die Jungen erster Brut die Nester verlassen und sich selbstständig gemacht haben, das heißt nicht mehr verlangen, von den Eltern gefüttert zu werden, fängt man sie heraus und bringt sie in einen anderen Raum, damit die zweite Brut durch sie nicht gestört werde. Mit der zweiten Brut verfährt man genau ebenso, mit der dritten wird die Hecke geschlossen.

Von größter Wichtigkeit ist es, möglichst ausgezeichnete Schläger in die Hecke zu setzen; denn so wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen, und die Güte des Gesanges bestimmt den Werth des Vogels.

Der veredelte Gesang soll nur aus wohlklingenden Tönen bestehen. Am beliebtesten sind die Glocken- und Flötentöne, die ‚Hohl-, Pfeif-, Lach- und Bogenrollen‘ oder Triller. Sodann wird von dem wahren Liebhaber verlangt, daß der Schlag des ‚guten‘ Vogels nicht allein aus einer großen Mannigfaltigkeit lieblicher Töne bestehe, sondern diese auch in angenehmer Weise für das Ohr in einander übergehen, verschmelzen, an- und abgesetzt werden. Solch ein Gesang, solch staunenswerthes Kunstwerk, läßt sich nur durch unausgesetzte Mühe, Beharrlichkeit und Sorgfalt von einzelnen Züchtern, den Altmeistern des Gewerbes, erzielen.“

Zum Sammeln der Vögel verwendet Reiche mehrere Aufkäufer, erfahrene, bewährte Kenner im Wählen und Ausscheiden; denn es handelt sich nur um Männchen oder Hähne, und das sichere Unterscheiden der Geschlechter erfordert langjährige Uebung, das Bestimmen der Preise das feinste Ohr für alle Schattirungen des Schlages.

„Aus allen diesen Mittheilungen,“ so schließt mein Gewährsmann, „geht wohl zur Genüge hervor, daß die Zucht des Canarienvogels und der Handel mit ihm ein erwähnenswerther Erwerbszweig geworden ist, welchen zu befördern von Staatswegen noch nicht das Geringste geschah. Nicht einmal zu unbedeutenden Zugeständnissen hat man sich herbeigelassen, nicht einmal eine Erleichterung des Versendens auf den Eisenbahnen gewährt. Während die Taxe für andere Eilgüter etwa ¾ Silbergroschen für den Centner und die Meile beträgt, müssen wir für lebende Vögel in Käfigen oder für lebende Thiere überhaupt 2½ Silbergroschen für die Centnermeile bezahlen, und während unsere Sendungen doch vor sonstigen Eilgütern nicht den geringsten Vorzug genießen, müssen wir selbst alle Gewähr übernehmen, ohne daß uns erlaubt wird, mit Eilzügen zu versenden und unsere Verluste dadurch zu verringern. Jedes Zugeständniß, welches man uns machen wollte, würde aber nicht allein uns, sondern in höherem Grade noch den meist armen Züchtern zu Gute kommen.“




Poesie und Wirklichkeit im Gebirge.
2. Der Seelsorger auf der Hochalpe.

Wenn man die breite fruchtbare Thalebene der Etsch am Ende des oberen Vintschgaues verläßt und, angezogen von dem imposanten Anblicke des Ortlevstockes, der weltberühmten Stilfserstraße entlang zieht, bieten sich dem Auge des Wanderers jene gewaltigen Naturbilder dar, welche eben nur in unmittelbarer Nähe der höchsten Gebirge in ihrer ganzen Großartigkeit sichtbar werden. Nach überraschenden Wendungen des wild in die Tiefe tosenden Gletscherbaches, welcher alljährlich mit unglaublichen Anstrengungen durch Dammarbeiten, Ableitungen etc. wieder und wieder gezähmt werden muß, eröffnet sich dem Blicke eine der schönsten Hochgebirgs-Idyllen.

Rund umgeben von den Gletschern des Ortlev und Madatsch, überragt von den schneeweißen Spitzen der ganzen Gruppe, liegt in der Höhe von fünftausend Fuß das aus wenigen Häusern bestehende Alpendorf Trafoi. Dieses stille, abgeschiedene Nestchen entstand vor vielen Jahren, als das Wunderwerk, die neuntausend Fuß über die Meeresfläche führende Kunststraße, erbaut und vollendet wurde; das Posthaus, die Vorspanns-Hauptstation und die Wohnungen der vielen Arbeiter bildeten hier den Centralpunkt, von wo aus alle den Verkehr betreffenden Verfügungen eingeleitet und in Ausführung gebracht wurden. Als frühere Reichs- und einzige Verbindungsstraße Oesterreichs mit der Lombardei, wurde dieses kühne Bauwerk auch während des Winters mit namenlosen Kosten und dem Aufgebote vieler Menschenkräfte für die wöchentlich zweimal verkehrende Post offen gehalten, und damals stand Trafoi in seiner Blüthe, es erbaute sich ein Kirchlein, stellte dem Geistlichen durch freiwillige Robot ein kleines Wohnhaus her, und da die Gemeinde in ihrer weiten Ausdehnung nach Hunderten zählte, gelang es der Mühe des Pfarrers, eine Schulfiliale zu begründen, so daß auch für den vorhandenen reichen Kindersegen gesorgt war.

Diese glückliche Zeit ist nun für Trafoi entschwunden, seit Oesterreich dem italienischen Besitze entsagte, und die Brennerbahn den ganzen Verkehr nach dem Süden an sich gezogen hat. Die Straße wird von der Regierung nur noch von der Veste Gomagoi am Eingange in das Suldenthal abwärts nothdürftig in Stand gesetzt; von da aufwärts aber, wo die schwierigen Herstellungsarbeiten beginnen, wo allein bis Trafoi fünf gewölbte Brücken die Gletscherbäche übersetzen und weiter die mit Millionen errichteten Gebäude, Cantonieren, Dämme und massiven Schutzgalerien eine Reihe jetzt noch von allen Reisenden angestaunter Objecte bilden, ist Alles dem Verfalle preisgegeben, was nicht schon bei wiederholten Kriegszeiten niedergebrannt oder gewaltsam zerstört wurde.

Die Gasthofbesitzer von Spontini, Prad, Trafoi, St. Maria und Bormio ermöglichen zwar im Hochsommer noch immer den gefahrlosen Verkehr für Wagen, da aber abgesehen von Vergnügungsreisenden, die Straße unbenützt bleibt, so zwingt die Noth die armen Bergbewohner, oft sehr weit entfernt von ihren Ansiedelungen um Taglohn oder mit Holzarbeit ihr Brod zu verdienen. Selten gewahrt daher der Wanderer abseits der Straße ein menschliches Wesen, und so überwältigend schön auch die Landschaft von Trafoi ist, ebenso melancholisch stimmt der Anblick der zerfallenen Hütten des Dorfes, welche von ihren Bewohnern verlassen und aufgegeben zu sein scheinen. Nur bei dem kleinen Pfarrhause, nächst der Kirche, begrüßt den Ankommenden das Gekläffe eines lahmen, vor der niedrigen Eingangsthüre postirten Spitzes, und wenn der Reisende, unbekümmert um diesen streitlustigen Wächter, näher tritt, kann er in dem kleinen Hausgarten die gebückte Gestalt des Pfarrers emsig arbeitend sehen, der einen freundlichen Gruß artig, aber kurz erwidert und, ohne weiter Notiz von seiner Anwesenheit zu nehmen, die ganze Aufmerksamkeit den kümmerlich gedeihenden Gemüse-Pflanzen zuwendet. In seltenen Fällen stört den, wie es scheint, menschenscheuen Einsiedler eine weitere Frage, und die Meisten vergessen wohl bald die Begegnung mit einem Manne, der nicht die geringste Lust zeigte, ein Gespräch anzuknüpfen. Und dennoch wäre dieser Mann eine kleine Ausdauer werth gewesen, der, vergessen von den mit reichen Pfründen bedachten Mitpriestern, treu ausharrend bei seiner nur noch sechsundachtzig Seelen zählenden Gemeinde geblieben ist, im Kriege muthig mit seinen Tirolerschützen die Höhen vertheidigte, und in der Zeit des Friedens, ferne von jedem unduldsamen Fanatismus, als echter Priester auf diesem verschollenen Posten wirkt.

Sein Einkommen ist mit dem Verfalle seines Kirchsprengels so geschmälert, daß viele Tage des Jahres Brod und Kartoffeln die einzige Nahrung im Pfarrhause bilden, aber dennoch findet jeder Arme ein Almosen bereit, und kein Unglücklicher verläßt ohne lindernden Trost die Schwelle. Ausgenommen den Verkehr mit seinen Pfarrkindern, liebt der Pfarrer die Einsamkeit und ist zur Sommer-Reisezeit fast nie zu bewegen, den Gasthof, mit dessen Besitzern er auf freundschaftlichstem Fuße steht, aufzusuchen; er verbirgt sich vor der Außenwelt, weil er es verschmäht zu klagen und mit seiner unbeschreiblichen Armuth nicht prunken mag. Wenn die Schule Ferien hält, die Krankenbesuche gemacht sind und der kleine Acker besorgt ist, wandert er am liebsten noch tiefer in die Berge und meist jenem eng umschlossenen Felsenkessel zu, wo versteckt unter Tannen und Kiefern die Wallfahrts-Capelle steht, neben welcher die reich sprudelnden Quellen der heiligen drei Brunnen entspringen.

Diese kleine Kirche auf den vorgeschobenen Moränen des Trafoier und Madatsch-Gletschers erbaut, hat für die Umgebung eine große Bedeutung. Zweimal des Jahres strömen von weit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_251.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)