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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Aenny erröthete, ihr gestriges Gespräch mit ihrer Mutter fiel ihr ein bei dem letzten Vers und wie sie ihn verspottet, wenn er die Mutter mit der Ruthe gegen sie zu Hülfe rufen werde. Sie erschien sich plötzlich recht unedel.

„Und wenn wir dann,“ – sprach Alfred mit Wärme weiter, „wenn wir dann neben dies muthwillige Kindergeplauder ein Gedicht halten wie jenes wunderbare tiefernste:

‚Mir ist, seit ich dich habe, als müßt’ ich sterben.
Was könnt ich, das mich labe, noch sonst erwerben?
Mir ist, nun ich dich habe, ich sei gestorben.
Mir ist zum stillen Grabe dein Herz erworben.‘

streifen diese beiden kleinen Lieder nicht an den Ausgangs- und Zielpunkt eines ganzen Seins, und sind sie nicht Ausflüsse jenes Gefühls, von dem ich sprach?“

Anna schwieg. Alfred’s Stimme hatte so schön geklungen, als er leise die Verse gesprochen. Unwillkürlich entglitt ihr das Büschel Binsen, das sie im Arme hielt, sie wollte künftig mehr von Rückert lesen.

Alfred hob die Binsen auf und reichte sie ihr. Er schaute ihr nahe und tief in die Augen und seine Hände ergriffen eine der ihren und falteten sich darüber wie flehend zusammen:

„‚Mir ist zum stillen Grabe dein Herz erworben!‘“

wiederholte er ernst bewegt.

Sie zog ihre Hand aus der seinen und sagte: „Wir müssen jetzt die Mutter abholen.“ Sie ging und Alfred blieb allein am Ufer zurück.




24. Wieder ein Gastfreund.

Zwei Tage später kam Alfred ungewöhnlich ernst zu Höslis und setzte sich schweigend auf einen Schemel neben Frau Hösli’s Rollstuhl.

„Was ist Ihnen, Alfred?“

„Mancherlei!“ erwiderte er. „Meine Mutter macht mir Sorge mit ihrem beständigen Husten, die Arbeit schlägt mir über dem Kopfe zusammen, und zum Ueberfluß schreibt mir heute auch noch Feldheim aus Saltenau, daß seit acht Tagen ununterbrochene Regengüsse niederströmen und die ganze Ernte vernichten!“

„Das ist viel auf einmal,“ sagte Herr Hösli. „Und dabei Ihr schwerer Beruf, für den Sie sich ganz und gar aufopfern. Sie müssen sich mehr schonen, Alfred! Es thut mir leid, daß Sie gerade dieses aufreibende Fach ergriffen haben. Hätten Sie sich der Industrie zugewendet und auf Ihren Gütern Fabriken errichtet, welch ein Segen wäre das für die mißlichen Verhältnisse der dortigen Gegend geworden! Die Provinz leidet gegen die russische Grenze hin offenbar unter der Einseitigkeit, mit der sie sich in Ermangelung anderer Hülfsquellen auf den Getreidebau verlegen muß.“

Alfred sah Herrn Hösli lächelnd an. „Sie sprechen aus, was längst meine Idee war. Haben Sie nur Geduld, bis ich meine Promotion hinter mir habe und wieder Herr meiner Zeit bin. Es ist mein bestimmter Vorsatz, mir bei Ihnen die Kenntnisse zu erwerben, deren ich bedarf, um mit Erfolg die Industrie meiner Heimathsprovinz zu heben. Ich studire ja auch seit einem Jahre neben meinem Fache noch Nationalökonomie. Wer reformatorisch in das Leben einer ganzen Gegend eingreifen will, der muß auf all’ diesen Gebieten zu Hause sein.“

Herr Hösli lächelte. „Nun, nun – nehmen Sie sich nicht allzu viel vor. Solchen gewaltigen Planen dürfte eine stärkere Natur als die Ihre nicht gewachsen sein.“

„Mein lieber Herr Hösli,“ sagte Alfred, „ich werde lernen, was ich brauche, um der menschlichen Gesellschaft so dienen zu können, wie es mein Herz verlangt. Mein Herz ist die Triebfeder meines Fleißes und glauben Sie mir, es ist eine starke Triebfeder.“

Herr Hösli sah seine Frau an und diese ihn.

„Sie sind ein Schwärmer, Alfred,“ sagte sie kopfschüttelnd.

„Das wird sich zeigen!“ sprach er ruhig.

Und es zeigte sich früher, als man es dachte.

Am Abend desselben Tages saßen Alfred und seine Mutter am Ufer, und ein Paar braungelbe breitmäulige Kinder spielten zu ihren Füßen mit Aenny, welche eine ganz besondere Zuneigung für die fremdartigen Geschöpfe zu haben schien und so seelenvergnügt und bewunderungsvoll jeder ihrer Bewegungen folgte, als seien es maskirte Engel, die eben vom Himmel herabgekommen. Es war ein herzgewinnender Anblick, wenn sich das blühende Mädchengesicht an die unheimlichen gelben Lärvchen schmiegte, oder wenn sie die schweren dicken Klümpchen zu gleicher Zeit auf den Armen herumschleppte. Man kann sich leicht denken, wem die kleinen Mulatten gehörten, und ebenso leicht begreift sich die Liebe Anna’s für dieselben. Es konnte wirklich für Anna nichts Lieberes, nichts Schöneres geben als diese Kinder! Ganz Zürich kannte und liebte sie mit ihr, denn sie nahm sie gar oft mit zum Conditor und auf den Jahrmarkt, und ihre Freude an ihnen war ordentlich ansteckend. Die kleinen „Möhrli“, wie man sie schlechtweg nannte, waren aber auch gar zu possierlich, wer hätte sie sehen können, ohne zu lachen und sie gern zu haben! Frank’s Kinder waren in ihrer Art Berühmtheiten und so im gewissen Sinne Gemeingut der ganzen Stadt. Jeder hatte seinen Spaß mit ihnen, Jeder schenkte ihnen was, und die Eltern waren so stolz auf ihre Nachkommenschaft, als wären sie die Urheber des auserlesensten Geschlechts. So wuchsen diese glücklichen Geschöpfe auf, sich und Anderen zur Freude, ahnungslos in sicherer Wiege die Klippen umschiffend, welche der beleidigte Schönheitssinn der Menschen gewöhnlich den Mißgestalten entgegenstellt. Alfred lehnte an der alten Balustrade des Ufers und dachte über dieses Räthsel nach, dessen einzige Lösung er in dem Wohlwollen und der Achtung fand, welche Frank sich durch seine Verdienste erworben.

Frank hatte sich seit seinem Studium auf der landwirthschaftlichen Schule zu einer allbekannten und beliebten Persönlichkeit emporgearbeitet. Er hatte etwas von dem Talent seines Vaters geerbt und dies kam erst, als er sich die nöthigen Kenntnisse erworben, zur Entwickelung. Er war in seiner Art ein Genie für die Anlage und Anordnung von Gärten. Darin entfaltete er einen Geschmack und eine Geschicklichkeit, welche die Aufmerksamkeit der Verschönerungsbehörden auf ihn lenkte, und ihn, das niedrigste Mitglied der menschlichen Gesellschaft, in wenig Jahren zu einem angesehenen und tüchtigen Bürger machte. Das waren die Gedanken, denen Alfred nachhing, während Aenny ihm den kleinen vierjährigen Hans aufdrängte, der von ihm getragen sein wollte.

Da kam der Director Zimmermann vom Hause hergeschritten. Alfred setzte das Kind zur Erde und ging dem Freunde entgegen.

„Komm an mein Herz; Junge!“ rief dieser und breitete die Arme aus. „Wenn ich in meinem Leben nichts gethan hätte, als ein solches Talent der Wissenschaft zugewendet zu haben, so wüßte ich, wozu ich auf der Welt war! Alfred, Alfred! Ich habe viel von Dir erwartet, aber Du hast Alles übertroffen!“ Er zog Alfred’s Manuscript aus der Tasche und gab es ihm. „Wer hätte das gedacht! Kein Mensch, der Dich so sieht, würde Dir so etwas zutrauen!“

Er näherte sich den Frauen. „Meine Damen, guten Abend! – sieht der Mensch da aus, wie einer, der berufen ist, eine neue Epoche in der Wissenschaft herbeizuführen? Nein! wir können uns das nicht leugnen. – Und dennoch nimmt der Duckmäuser den Kampf mit der halben medicinischen Welt auf und das Erste, was das sanfte Lamm macht, ist eine Streitschrift, die einschlagen wird wie ein Donnerwetter. Ja, ja, stille Wasser sind tief!“

„Herr Professor,“ sagte Alfred, „Sie bringen mich in Verlegenheit!“

„Da haben wir ihn wieder! Züchtig und verschämt wie ein Mädchen, das den ersten Liebesbrief bekommt! O Fräulein Anna, nehmen Sie sich vor dem in Acht, der hat’s dick hinter den Ohren!“

„Ach Gott,“ sagte Aenny fast mitleidig, „der gute Junge!“

Ueber Alfred’s Gesicht zuckte es bitter bei diesem geringschätzigen Tone.

„Ja – der gute Junge,“ parodirte Zimmermann, „der wird noch ein großer Mann werden und der Schrecken seiner Gegner, verlassen Sie sich darauf.“

„Ei, Alfred, man bekommt ja ordentlich Respect vor Dir!“ sagte Aenny und betrachtete Alfred verwundert, als wolle sie herausfinden, wo denn eigentlich in dem unscheinbaren Bürschchen alle diese merkwürdigen Eigenschaften steckten. Sie hatte so viele Jahre lang mit dem Alfred zusammengelebt und nichts Besonderes an ihm wahrgenommen, ja ihn eher für dumm gehalten – nun sollte er auf einmal ein großer Mann werden! Das war doch zu merkwürdig! Konnte man denn ein großer Mann werden, wenn man, wie Fredy neulich selbst sagte, mit Blutegeln und Kataplasmen kämpfte?

Zimmermann näherte sich Adelheid, die verklärten Blicks auf ihren Sohn schaute.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_630.jpg&oldid=- (Version vom 13.2.2019)