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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

„Na also, da hörst Du’s!“ sagte der Operateur und dabei trennte er den Kopf so kunstgerecht von dem Rumpfe, daß ihm Niemand die Anerkennung würde schuldig geblieben sein, wenn er darum gefragt hätte.

„Man muß sich nur zu helfen wissen,“ fuhr er fort. „Rother, gieb’s Casserol her!“

Der Rothe, der Alles that, was der Andere sagte, selbst aber kein Wort sprach, reichte ihm einen alten Kesseldeckel den sie jedenfalls überein gekommen waren, Casserol zu nennen, der aber damit gar nichts weiter gemein hatte als den Namen, und nun wurde das Wildpret auf Speck gebettet über das Feuer gesetzt.

„Man muß sich nur zu helfen wissen, sag’ ich. – Als wir heute Nachmittag über die Höhen marschiren, gehen wir Beide durch ein Kartoffelstück – wir hatten noch kein Gemüse im Brodsack – schreit Euch auf einmal der Rothe, der sonst nie das Maul aufthut: ‚Ein Franzose, ein Franzose!‘ und Brodbeutel und Flinte fliegen in die Luft. Ich denke, der Schlag rührt mich, als ich das höre. ‚Wo denn?‘ – ‚Da!‘ und plauz! schmeißt sich der Kerl, so lang, wie er ist, auf den Boden. – ‚Bist Du verrückt?‘ rufe ich. – ‚Ne, ne – mach nur fix, daß wir’n kriegen!‘. Da sprang das Ding da heraus, und nun ging die Hetzjagd an.“

„Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein,“

sangen sie drüben.

„Nu freilich – und ooch weiter noch,“ rief der Erzähler beistimmend hinüber und legte seinen Braten auf die andere Seite. „Aber wir hätten lange laufen können, wenn nicht vorn aus dem Bataillon ein Paar zugesprungen wären. Da macht der Hase einen Haken und kommt im Chausseegraben wieder auf uns zu, hastu nicht gesehn! Auf einmal ist er fort und unter den Weg in eine Wasserröhre. Wir gleich ’nauf auf die Straße; wer aber auf der anderen Seite nicht herauskam, war hier Lampe. – Wie wir ihn aus der Röhre herausgejagt haben? ‚Rother,‘ sage ich, ‚Du gehst auf die Seite und hältst den Brodbeutel vor’s Loch. Ich werde von der anderen Seite eine blinde Patrone hineinschießen. Das müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir den Burschen nicht herausbringen sollten.‘ – Gut – ich schieße. Der Brodbeutel macht einen fürchterlichen Satz auf den Acker und kollert wie besessen hin und her. Ein Glück, daß die Leinwand keine Augen hatte, sonst wären Brodsack und Lampe zum Geier. So aber hatte der Rothe Recht, er fing seinen Franzosen lebendig, denn er war richtig in den Sack hineingefahren. Und nun, Bruder, soll er uns gut schmecken.“

Damit stieß er dem Opfer sein Seitengewehr durch das Rückgrat, machte zwei christliche Hälften – mir eine – dir eine – und sah seinen Jagdgenossen, der einen gewaltigen Biß in seinen Antheil that, triumphirend und fragweise an.

„Zu wenig Zwiefeln dran,“ das war das erste Wort, was der zu der ganzen Affaire sagte – es war auch das letzte, was ich von ihm hörte; indessen vermuthe ich, daß er Recht gehabt hat.

Die Anderen aber welche die Geschichte höchlich amüsirte, waren weniger schweigsam, und als wir nach Aufhebung unserer Tafel ein paar Feldkessel mit Wasser gefüllt nochmals an’s Feuer gestellt, und den gesammten Rum- und Cognacvorrath, über den wir verfügen konnten, zusammengelegt hatten, war die Aussicht auf einen steifen Grog in der kühlen Nacht höchst behaglich. Es handelte sich nur noch um den Zucker, der vom Marketender geholt werden sollte.

„Der Marketender! Ach du lieber Gott!“ hieß es, denn da der Marketender in solchen Fällen das einzige Auskunftsmittel ist, so steht man der Zukunft mit einer gewissen Bangigkeit entgegen. Denn obwohl der Marketender im Bivouac die Höhe seiner Werthschätzung erklimmen kann, wenn er nur einigermaßen im Stande ist, den mäßigen Ansprüchen seiner Truppe zu genügen, so ist dies in der Regel nur sehr beschränkt der Fall. Einmal verstehen die Leute von ihrem Geschäft selten mehr, als das Geldnehmen; dann aber ist es in einem Landstriche, der schon ausgesogen und von seinen Bewohnern zum größten Theile verlassen ist, auch für denjenigen schwierig, das Erforderliche und Gewünschte zu beschaffen, der sonst die Bezugsquellen kennt und sich mit der Bevölkerung verständigen kann; um wie viel mehr für Menschen, die von der fremden Sprache nicht einmal so viel Begriffe haben, um die Ortsnamen verständlich aussprechen zu können.

Ich hatte auf meinem Wege wenige Tage vorher selbst einen solchen Cumpan getroffen, der – es dämmerte bereits – den ganzen Nachmittag in der Irre umhergefahren, und anstatt Pont à Mousson zuzufahren, wo er Lebensmittel kaufen wollte, direct wieder auf seine Compagnie zusegelte. In seinen Augen war ich ein Engel, als ich ihn deutsch anredete.

„Thun Sie mir den einzigen Gefallen und fahren Sie mit mir,“ sagte er. „Sie wissen gar nicht, wie die Menschen hier sind; es ist immer besser, man ist da zu Zweien,“ und das sprach er so weichmüthig aus, daß ich – zwar mich nicht in den mit Gerümpel aller Art angefüllten und nicht sehr appetitlichen Karren setzte, aber doch die Gesellschaft duldete. Er hatte ein ganz gutes Pferd vor dem Wagen, das er gewiß nicht von Hause aus mitgebracht hatte, und manche Aeußerungen, die er über seine Collegen machte, bestätigten mir die längst gehegte Vermuthung, daß der alte Steinmetz, wenn er, wie erzählt wurde, alle Marketender aus seinem Corps verbannt hat, sich mit dieser Maßregel nicht sehr an der wahren Tugend versündigt haben wird.

„Man darf übrigens nicht glauben,“ sagte der, der das Feuer unterhielt, als gelegentlich der Zuckerfrage die Mängel und Vorzüge der Marketender zur Sprache kamen, „daß unter den Marketendern keine wissenschaftliche Bildung steckt. Die fünfte Compagnie hat einen ausgezeichneten Chemiker zum Marketender, der seinen Rothwein nur aus Essig und Heidelbeeren macht, und Mathematik haben sie Alle studirt.“

„Wenn sie nur Cigarren hätten,“ klagte ein Anderer, und Butter und Brod.“

Das sind allerdings die begehrtesten, weil fast nicht aufzutreibenden Artikel.

Als ich mit dem vorhin schon erwähnten Marketender nach Pont à Mousson kam, beschwor er mich, ihm bei seinen Einkäufen behülflich zu sein. Er wußte sich auf der Gotteserde durchaus keinen Rath. Da es schließlich doch den Soldaten zu Gute kam, ließ ich mich bewegen, mit ihm die Gewölbe der Epiciers, Bäcker- und Fleischerläden, die Brauereien und Weinhandlungen abzusuchen und den Dolmetscher zu machen. Kaum daß wir immer am zehnten Orte etwas zu kaufen bekamen. Cigarren gab es gar keine, Butter, Käse, Wurst und dergleichen ebensowenig, Zucker und Schnaps fanden wir ganz zufällig.

In einem Bäckerladen bestellte uns die sehr hübsche Frau für eine Stunde später wieder, es werde eben gebacken. Als wir wieder kamen, standen vor dem Hause eine Menge Wagen, deren Besitzer, fast lauter Marketender, auf die arme Frau einstürmten. Jeder wollte seine Ladung so groß wie möglich, und doch war nicht genug da. „Für die Privatperson ein Brod, für die Marketender je drei, weiter langt es nicht.“ Das wiederholte die übrigens sehr resolute Dame immer und immer wieder, aber Niemand verstand sie. Alle hielten ihr Geld entgegen, – so viel sie wollte, hätte die Frau nehmen können, – man drängte, schrie, ereiferte sich; erst als ich den Leuten auseinandersetzte, daß für heute der ganze Vorrath eben zur Vertheilung käme, besänftigten sich die Gemüther und ergaben sich in das Unvermeidliche. Für meine Intervention erhielt ich acht große Brode, ein Erfolg, der meinen Begleiter fast zur Kniebeugung veranlaßt hätte.

„Daran hat er netto zwanzig Thaler verdient,“ rechnete die Gesellschaft nach, der ich die Geschichte erzählte. „Wir werden für unsern Zucker auch wieder ein Heidengeld geben müssen.“

„Schadet nichts, wenn er nur überhaupt welchen bringt.“

Das geschah denn, und als das duftende heiße Getränk Jedem zurecht gemacht war, hatte man sich bereits mit allen Marketendern der Welt wieder versöhnt.

Die allgemeinste Unterhaltung war bald in Fluß. Jeder erzählte, dazwischen sang man einmal wieder mit in die Musik hinein, die noch eine Zeitlang in edler Selbstverleugnung spielte. Geschichten aus der Schulzeit, aus dem Garnisonsleben, aus der Heimath, – heitere Erinnerungen, die nur vorübergehend durch Rückblicke auf die letztvergangenen Tage wehmüthig angehaucht wurden, wenn der Name eines abwesenden Cameraden, der sich hineinverflocht, Fragen nach seinem Schicksal oder Worte trauernden Nachrufes hervorrief. Es war so viel von Schlacht und Tod erlebt worden, daß Jeder mit Lust nach den friedlichen Bildern griff, die das Gedächtniß früherer Zeiten gab. Ewigkeiten schienen zwischen damals und heute zu liegen.

„In Chemnitz hatte ich einmal, als ich einberufen war, den Zug verpaßt –“ fing Einer seine Geschichte an.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_646.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)