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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)

„Es ist ein Elend, – das Geld, – das leidige Geld!“ seufzte Victor neben Alfred hinschreitend, „wo das fehlt, bleibt doch der Mensch ewig ein Spielball der Verhältnisse! Wie viele traurige Beispiele rings um uns drängen Einem nicht die Betrachtung über die Macht auf, welche das Geld in allen Kreisen der Gesellschaft hat! Ist es nicht eine schmähliche Ironie sich sagen zu müssen, daß wir nicht einmal unsere Vornehmheit behaupten können ohne Geld? Denn wer verarmt ist, der verfällt dem Proletariat, sobald ihn in seinem Elend die moralische Kraft verläßt. Und wenn sich Einer einmal aus dieser Misère zu retten sucht und eine reiche Bürgerliche heirathet, um sich und seinen Nachkommen eine standesgemäße Existenz zu sichern, dann zeigen die Genossen gleich mit Fingern auf ihn und sprechen von einer Geldheirath.“

„Es ist auch ein großer Fehler,“ entgegnete Alfred ruhig, „daß Euch so wenige Möglichkeiten geboten sind, Euch Vermögen zu erwerben, und daß Ihr deshalb immer auf den glücklichen Zufall einer Erbschaft oder einer reichen Heirath angewiesen seid.“

„Je nun, als Soldat kann man sich kein Vermögen machen. Man lebt und stirbt für die Ehre. Deshalb ist auch wohl unser Beruf der uneigennützigste und aufopferndste von allen, und wir dürfen dafür ohne zu erröthen eine Entschädigung, die uns der Staat nicht bieten kann, vom Schicksal annehmen, wenn es uns eine solche in Gestalt einer reichen Frau oder einer schönen Erbschaft zuführt.“

„Du hast Recht von Deinem Standpunkt aus, aber nicht Alle unseres Standes sind ja Soldaten; die, welche es nicht sind, sollten mit ihren eingewurzelten Vorurtheilen brechen und sich vielseitigere Erwerbsquellen zu eröffnen suchen. Dein Vater war kein Soldat, hätte er seine entschiedenen Fähigkeiten genützt und nicht in vornehmer Unthätigkeit sein verfallendes Vermögen verzehrt, so wärst Du jetzt ein reicher unabhängiger Mensch.“

Victor blickte nachdenklich vor sich hin, ein bitterer Zug legte sich um den schönen Mund, der Alfred auffiel und sein Mitleid erregte, denn er zeigte ihm, wieviel Victor unter seinen drückenden Verhältnissen gelitten haben mochte. Er reichte ihm die Hand.

„Ich habe Dich hoffentlich nicht verletzt?“

„O nein, Du hast nur den Nagel auf den Kopf getroffen – und ich bin der Nagel!“ sagte Victor düster.

„Höre, Victor,“ flüsterte Alfred ihm zu. „Wenn Du je in Verlegenheit kommst, so hoffe ich doch, daß Du keinen Augenblick anstehst, mich als Deinen Bruder zu betrachten.“

„Ich danke Dir, ich borge nie, da ich nicht wüßte, wovon ich es zurückgeben sollte, und Geschenke, die ich nicht durch irgend eine Gegenleistung wett machen könnte, nehme ich ebensowenig an. Ich habe Gottlob keine Schulden, und es ist mir bisher immer gelungen, den Schein zu bewahren. Aber dieses ‚den Schein bewahren‘ – ist eine nichtswürdige Arbeit! Die beste Kraft vergeudet man in erbärmlichen Kniffen, kleinlichen Raffinements, beständigem Laviren – und zuletzt geht die ganze Mannheit der Seele darüber verloren. Du sagtest mir als fünfzehnjähriger Knabe ein Wort, das ich damals nicht begriff, Du sagtest: ‚Ich würde von Niemandem Almosen annehmen, gäbe es mir ein Fürst oder ein Bauer, lieber würde ich sterben!‘ Ich habe dies Wort allmählich verstehen gelernt und werde es nie vergessen.“

Alfred sah ihn teilnehmend an, sein Herz neigte sich immer mehr dem Vetter zu. Da fuhr sich dieser plötzlich mit der Hand über die Stirn, als wolle er die trüben Gedanken verscheuchen, und als fiele es ihm jetzt erst ein, sagte er:

„A propos! was ist denn aus dem kleinen allerliebsten Mädchen geworden, mit dem ich vor sechs Jahren immer spielte? Das war ein süßes Ding! Ist sie noch hier?“

„Natürlich!“ warf Alfred kurz hin.

„Ach, höre, da mußt Du mich gleich zu ihr bringen. Sie wird ein schönes Mädchen geworden sein, wie?“

„O ja!“

„Dann, bester Alfred, laß uns nicht säumen, mich ihr vorzustellen, ich freue mich wirklich darauf, diese Kinderbekanntschaft zu erneuen.“

Alfred biß die Lippen zusammen und schwieg.

Wenige Stunden später gingen die jungen Männer zu Höslis. Sie wurden vom Diener in den Garten geführt, wo Frau und Fräulein Hösli beieinander in einer Laube saßen.

Anna war gerade damit beschäftigt, eine Puppe für Frank’s Kinder anzuziehen, die, Gott weiß wie, mit ganzen Gliedern aus der Zerstörungsperiode von Aenny’s Kindheit gerettet und einer bessern Nachwelt aufbehalten worden war. Da die Toilette der kleinen Dame eben erst begonnen hatte und sich noch auf ein etwas knappes, vermuthlich von einer kleineren Puppe stammendes Hemdchen beschränkte, warf Anna erschrocken ein Tuch über den anstößigen Lederbalg, als sie die beiden Herren von Weitem kommen sah, und raffte in der Eile Strümpfchen, Höschen und was sie erwischen konnte, zusammen.

„Das ist Victor,“ rief sie vergnügt ihrer Mutter zu und zwang sich mühsam sitzen zu bleiben, – sie wäre ihm so gerne entgegen gelaufen, wenn es sich nur geschickt hätte.

Sie konnte Victor nicht recht erkennen, die Sonne blendete sie; als er aber vor ihr stand in seiner ganzen Pracht, da sprang sie unwillkürlich und tief erröthend auf und eine seltene Befangenheit kam über sie, so daß sie nicht einmal merkte, wie ihr die Puppe vom Schooße glitt. Erst als dieselbe prasselnd auf den Steinboden der Laube fiel und Victor sich danach bückte, griff auch sie zu und hüllte sie schnell wieder ein. Aber ach, der niedliche Wachskopf, der so lange allen Stürmen von Aenny’s wilder Laune getrotzt hatte, er lag zerbrochen auf der Erde! „Meine Puppe hat den Kopf verloren,“ stammelte sie in sichtlicher Verlegenheit.

„Verliere nur Du ihn nicht auch!“ flüsterte rasch Frau Hösli nur für Anna verständlich auf Englisch und ein unzufrieden prüfender Blick streifte das erglühende Mädchen, dessen Augen mit Bewunderung an Victor hingen.



25. Der Flickschneider.

„Der Joseph hat eine Nase!“ schrieen die Kinder des Dorfes Goldbach bei Zürich durcheinander.

„Eine Nase?“

„Ja, ja, eine rechte Nase von Fleisch, man kann sie anfassen, sie sitzt fest.“

Das ganze Dorf strömte zusammen und umringte staunend einen hübschen jungen Menschen, der mit einem Ränzel auf dem Rücken des Weges von Zürich her kam.

So viel Geschrei um eine Nase muß natürlich einen besonderen Grund haben, denn es ist ja doch etwas Selbstverständliches, daß jeder Mensch eine Nase hat – und darüber ist gar nichts weiter zu reden. Aber bei dem Joseph war das anders, der hatte gar keine gehabt, sie war vergessen ihm mit auf die Welt zu geben, und jetzt erst nach zwanzig Jahren nachgeliefert worden. Daher das Aufsehen, welches die Nase des Joseph erregte. Man hatte sie gar zu lange erwarten müssen und ihre Abwesenheit hatte zu viel Unheil angestellt, als daß ihre Ankunft nicht zum Ereigniß werden sollte für Jedermann.

„Nein, Joseph! Wer hat Dir denn die Nase angeflickt?“ fragte ein Bauer und griff ihm fast ängstlich nach dem fraglichen Theile, der sich nur durch eine eigenthümliche bläuliche Blässe von anderen normalen Nasen unterschied.

„Der muß mehr können, als Brod essen,“ meinte ein Anderer, „der das zu Stande brachte.“

„So etwas ist ja seit Menschengedenken im Dorfe nicht gehört.“

„Erzähl’, Joseph! Erzähl’, wie’s gegangen ist!“ schrieen Alle durcheinander und umringten den Burschen. „Kein Mensch hat gewußt, wo Du hingekommen bist; Du warst ja auf einmal verschwunden, wie von der Erde verweht!“

„Und’s ging Euch ab, daß Ihr so lange Keinen hattet, an dem Ihr Euren Spott und Eure Bosheit auslassen konntet, denn dazu war ich ja doch nur gut!“ sagte Joseph bitter. „Jetzt drängt Ihr Euch um mich und wißt des Fragens kein Ende, und wenn ich noch ein Loch statt einer Nase im Gesicht hätte, schrieet Ihr höchstens: ‚Pfui Teufel, der Joseph ist wieder da!‘ Und ich müßte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_662.jpg&oldid=- (Version vom 23.5.2019)