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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

gebeugte Gestalt, das milde blasse Antlitz, die sanfte leise Sprache; das Alles bildete den schärfsten Contrast zu der Erscheinung der Mutter.

Den Gegenstand des Gespräches der beiden Damen bildete natürlich das schreckliche Ereigniß des Morgens. Die Gräfin hatte es soeben mit erneuter Aufregung erzählt; ihre Augen zeigten die Spuren frisch vergossener Thränen, und auf den bleichen Wangen brannten zwei fieberrothe Flecken. Die Präsidentin besaß augenscheinlich stärkere Nerven als ihre Tochter; die leidenschaftliche Erzählung derselben schien bei ihr nur einen sehr geringen Eindruck hervorgebracht zu haben. Für sie lag das Peinliche des Vorfalls hauptsächlich darin, daß er sich gerade in der gräflichen Wohnung ereignet hatte.

„Nun, ich will aber doch hoffen, daß man Dir die Sache mit der nöthigen Schonung mitgetheilt hat?“

Die Gräfin schüttelte leise den Kopf. „O Mama, das war nicht möglich! Ich hörte im Cabinet meines Mannes einen Schuß fallen; ich fliege tödtlich erschreckt den Corridor entlang und erreiche in dem Augenblicke die Thür, als Adalbert sie öffnet. Er eilte an mir vorüber, um Hülfe herbeizurufen, und –“

„Und gab Dich einem Anblick preis, der Dir in Deinem leidenden Zustande hätte tödtlich werden können?“ unterbrach sie die Präsidentin mit dem heftigsten Unwillen. „In der That eine unbegreifliche Rücksichtslosigkeit!“

„Mein Gott, Adalbert war selbst so verstört, so außer sich, wie ich ihn nie gesehen. Er hatte alle Fassung verloren, und ich begreife das nur zu sehr. War er es doch, der, wenn auch wider seinen Willen, den Unglücklichen zu jenem verzweifelten Schritte trieb.“

„Dein Mann that nur seine Pflicht,“ erklärte die Präsidentin entschieden, „und der Betrüger erlitt die verdiente Strafe. Er hat sich wenigstens der öffentlichen Schande, aber leider damit auch jeder Rechenschaft entzogen.“

„Aber er hinterläßt Familie, eine Frau und ein Kind von wenig Monaten, ein kleines Mädchen, glaube ich.“

„Das ist traurig; aber besser, daß sie den Mann und Vater todt als im Zuchthause wissen. Nimm den Vorfall nicht so schwer, Ottilie, er steht leider nicht vereinzelt da. Es ist nicht das erste Mal, daß ein ungetreuer Beamter auf solche Weise der Gerechtigkeit vorgreift. Wenn er nur einigen Charakter besaß, so blieb ihm nach erfolgter Entdeckung kaum etwas Anderes übrig.“

Die Gräfin seufzte. Sie hatte augenscheinlich nicht Philosophie genug, das Schreckliche, das sich fast unter ihren Augen ereignete, so leicht bei Seite zu schieben wie ihre Mutter, die jetzt abbrechend fragte: „Wo ist Adalbert?“

„Ich habe ihn noch nicht wiedergesehen. Er leitet selbst die Beschlagnahme der Papiere des Rentmeisters und wird wohl noch mit der Untersuchung beschäftigt sein.“

„Und Hermann? Weshalb kommt er mir nicht wie sonst entgegen?“

Bevor noch die Gräfin antworten konnte, bewegten sich die Falten der Portiere, die den Eingang in’s Nebenzimmer verdeckte, und ein etwa achtjähriger Knabe kam zum Vorschein. Der kleine Graf Arnau war ein kräftiges, aber ziemlich unschönes Kind, das wenig oder gar keine Aehnlichkeit mit der Mutter, dafür aber eine desto größere mit der Großmutter zeigte. Es war derselbe Schnitt des Gesichtes, dieselbe hohe breite Stirn, derselbe scharfe klare Blick, und um den kleinen Mund legten sich bereits die ersten Linien jenes energischen Zuges, der das Antlitz der Präsidentin zugleich so abstoßend und so bedeutend machte. Ob der Knabe immer so blaß aussah wie in diesem Augenblicke, oder ob auch er unter dem Einflusse des Schreckens stand, den der Vorfall des heutigen Morgens im ganzen Hause verbreitet – er lief nicht fröhlich auf die Großmutter zu, sondern ging langsam, fast scheu zu ihrem Sitze und legte stumm die Arme um ihren Hals.

„Wie, Hermann,“ fragte diese mit äußerster Befremdung, „Du warst im Nebenzimmer und kamst nicht zum Vorschein? Was soll das heißen? Seit wann giebst Du Dich, hinter den Vorhängen versteckt, mit Lauschen ab ?“

Der ernste, aber vielleicht nicht allzustreng gemeinte Vorwurf äußerte eine seltsame Wirkung auf den Knaben. Er schrak zusammen bei den letzten Worten und eine jähe Röthe färbte sein eben noch so blasses Gesicht; dabei richtete sich sein Auge mit so angstvollem Ausdrucke auf die Großmutter, daß diese unwillkürlich milder gestimmt fragte: „Aber was hast Du denn heute, Kind? Bist Du auf einmal scheu und furchtsam geworden?“

„Das arme Kind ist noch so erschrocken,“ nahm die Gräfin begütigend das Wort. „Es war im Cabinet plötzlich an meiner Seite und mußte, wie ich selbst, den ganzen furchtbaren Anblick ertragen. Nicht wahr, Hermann, Du hörtest auch den Schuß aus dem Zimmer des Papa und bist mir nachgeeilt?“

Der Knabe antwortete nicht; er verbarg sein Gesicht am Halse der Großmutter, und diese fühlte, wie sein ganzer kleiner Körper in ihren Armen bebte. Die Präsidentin war jedoch nicht die Frau, solche Empfindsamkeit bei ihrem Enkel zu dulden, sie hob beinahe unsanft seinen Kopf empor.

„Das hätte ich in der That von Hermann nicht erwartet. Wenn seine arme kranke Mama durch solch’ einen Schrecken noch kränker wird, so ist das leider nur natürlich; wenn aber ein Knabe der einst ein Mann werden will, noch stundenlang nachher zittert, weil er einen Schuß gehört und eine Leiche gesehen hat, so ist das ein Zeichen von Schwäche und Weichlichkeit, der man bei Zeiten mit aller Energie entgegentreten muß.“

Die scharfen, mit vollster Strenge gesprochenen Worte verletzten den Knaben augenscheinlich auf’s Tiefste. Es lag durchaus keine Furcht und Angst mehr, wohl aber ein entschiedener Trotz in der heftigen Bewegung, mit der er sich plötzlich von der Großmutter losmachte. Mit blitzenden Augen und der Miene tiefster Gekränktheit öffnete er den Mund, wie zur heftigen Gegenrede, da fiel sein Blick auf die Mutter, und eine eigenthümliche Veränderung ging in dem Gesichte des Kindes vor. Die kleinen Lippen preßten sich so fest aufeinander, als wollten sie mit Gewalt jedes Wort zurückdrängen, der Trotz verschwand aus seinen Zügen, die plötzlich einen Ausdruck von Entschlossenheit zeigten, die weit über sein Alter hinausging und die Aehnlichkeit mit der Präsidentin stärker als je hervortreten ließ; er senkte den Kopf und ließ stumm den Vorwurf über sich ergehen.

Die Präsidentin schüttelte den Kopf und wollte eben ihrer Befremdung über dies räthselhafte Benehmen Worte geben, als der Doctor gemeldet ward. Die Gräfin, welche der Mutter durchaus nicht zeigen wollte, wie furchtbar angegriffen sie in der That war, erhob sich anscheinend mühelos und ging ohne alle Unterstützung in’s Nebenzimmer; die ärztliche Visite war nicht von langer Dauer, nach einer Abwesenheit von kaum zehn Minuten kehrte sie in den Salon zurück.

Die Präsidentin saß noch an derselben Stelle wie vorhin, aber sie hatte den Kopf tief zu dem kleinen Hermann herabgebeugt, der neben ihr auf dem Sopha kniete und die Arme um ihren Hals geschlungen hatte. Beim Eintritt der Gräfin schreckten Großmutter und Enkel gleichzeitig zusammen, die erstere legte mit einer hastigen Bewegung ihre Hand auf den Mund des Kindes und, den Kopf emporrichtend, wendete sie sich langsam nach der Tochter um.

„Um Gotteswillen, Mama, was ist Dir?“ rief diese, auf’s Aeußerste erschreckt.

Das Antlitz der Präsidentin war todtenbleich, und der Ausdruck desselben rechtfertigte nur zu sehr die angstvolle Frage; sie versuchte zu antworten, aber die bebenden Lippen schienen ihr den Dienst zu versagen, eine stumm abwehrende Bewegung mit der Hand war die einzige Antwort.

Die Gräfin griff nach der Klingel. „Dir ist nicht wohl, ich will die Jungfer rufen, sie soll sogleich –“

„Bleib’! Ich will Niemand!“ herrschte ihr die Präsidentin beinahe rauh entgegen. Die energische Frau war bereits der Schwäche Herr geworden, obgleich die Farbe noch immer nicht in ihr Gesicht zurückkehrte, und die Lippen noch bebten, als sie ruhiger, aber tonlos hinzusetzte: „Es ist Nichts! Ein plötzlicher Schwindel, er geht bereits vorüber.“

Gräfin Ottilie hatte die Mutter in ihrer eisernen Gesundheit noch nie einer körperlichen Schwäche unterliegen sehen, um so mehr ängstigte sie dieser plötzliche Anfall.

„Willst Du nicht lieber Dein Zimmer aufsuchen?“ fragte sie besorgt. „Die lange Fahrt hat Dich angegriffen. Bleib’ zurück Hermann, Du siehst ja, daß Großmama unwohl ist.“

Mit einer beinahe krampfhaften Bewegung zog die Präsidentin den Knaben an sich. „Hermann geht mit mir! Ich wünsche ihn um mich zu haben. Beunruhige Dich nicht, Ottilie, ich wiederhole Dir, daß der Schwindel vorüber ist. Du bedarfst der Ruhe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_742.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2021)