Seite:Die Gartenlaube (1871) 111.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


zu und das Gelingen war gesichert. Der Saal Ludwig des Dreizehnten im Parterregeschoß des Hauptgebäudes wurde zur Bescheerung ausersehen, festlich geschmückt und hergerichtet. Eine Anzahl der leichter Verwundeten, aber noch Bettlägrigen wurde herbeigeschafft, Solche, die gehen konnten, auf Bänken und Stühlen um die mit Gaben belasteten Tische gereiht. Als gegen ein Uhr die Zahl der Eingeladenen sich eingefunden hatte, eröffnete die Musik mit einem Choral die Feier, Pastor Wernick sprach tief empfundene und zu den Herzen dringende Worte, worauf die Musik mit dem Choral „Nun danket Alle Gott!“ den religiösen Theil der Feier schloß. Die leuchtenden Augen der umhersitzenden und liegenden Kranken, ihre Dankesworte und Geberden beim Empfange der Gaben, die Wonne, die sich beim Umhertragen der Weihnachtsbäume durch die übrigen mit schwer Verwundeten belegten Räume verbreitete, zu schildern, würde ein vergebliches Unternehmen sein. Der Maler tritt hier in seine Stelle, und mir bleibt nichts zu sagen, als daß Jeder, den ein glückliches Geschick jenen Abend mitgenießen ließ, mag er ein Beschenkender oder ein Beschenkter, ein Gesunder oder ein Kranker gewesen sein, Zeit seines Lebens an den Christabend denken wird, den er verlebt hat in dem Palaste zu Versailles, der, wie seine stolze Aufschrift lautet, gewidmet ist

à toutes les gloires de la France.

Versailles, am 30. December 1870.

Hermann Küchling.




Wie Mühlhausen französisch wurde.


Mühlhausen ist eine hochstrebende Stadt. Und sie hat Recht, es zu sein. Als sie 1798 französisch wurde, zählte die ganze Bürgerschaft erst nach Hunderten, und zwar nur sechshunderteinunsiebenzig bürgerliche und achtunddreißig adelige Geschlechter; heute zählt sie sechszig- bis siebenzigtausend Einwohner. Die Baumwollenspinnerei war damals erst seit etwa dreißig Jahren – durch Matthias Rißler – eingeführt worden; jetzt ist sie die erste in ganz Frankreich, steht sie ebenbürtig neben der der größten Fabrikstädte Deutschlands, Englands, Amerikas.

Wer in den Arbeitervierteln Mühlhausens herumwandert, wer diese musterhaften freundlichen Arbeiterstraßen sieht, wer dann hört, daß die Dollfus, die Köchlin, die Schummberger dieselben zum Besten ihrer Arbeiter mit den größten Opfern hergestellt haben, der trägt auch die unbedingteste Hochachtung gegen diese Fabrikbesitzer, ihre Tüchtigkeit, ihre Klugheit, ihre Menschenliebe mit heim.

Genug, Mühlhausen ist eine hochstrebende Stadt und die Mühlhauser sind ein kräftiges Völkchen.

Wer weiß? vielleicht ist daran doch ein wenig mit schuld, daß sie – Deutsche sind, und überdies viele Jahrhunderte eine Republik bildeten, und zwar seit dem dreizehnten Jahrhundert (1273) eine freie Reichsstadt, seit dem fünfzehnten (1476) eine dem Schweizerbunde angeschlossene unabhängige Republik.

Erst 1798 wurde diese französisch. Und nun sind sie heute schon so durch und durch französisch? Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht; sie sind nicht so böse, wie sie thun; sicher nicht Alle, ziemlich gewiß nur die Minderzahl, meist nur die eingewanderten Franzosen und nur hier und dort ein Deutscher, der gerne ein Franzose sein möchte, ein „Auch-Franzose“! – Jedenfalls ist unter den siebenhundert Geschlechtern, die 1798 französisch wurden, kaum Ein französischer Name, alle sammt und sonders, um Ausnahme eines einzigen, Thiery, der auch den Vermittler 1798 spielte, mustergültige Deutsche, die auch heute noch, wie damals, den Kern der Einwohnerschaft bilden.

Aber nicht davon wollen wir sprechen, sondern nur erzählen, wie diese kleine, freie Republik französisch wurde. Es ist eine ziemlich kurzweilige und doch lehrreiche Geschichte.

Lust zum Französischwerden hatten sie so wenig – wie letzthin Frankfurt zum Preußischwerden. Die Bürgerschaft befand sich wohl, war wohlhabend, hatte das volle Bewußtsein ihrer Freiheit, ihrer Selbstherrschaft, ihrer bevorzugten Stellung in dieser Freiheit, geschützt durch den Schweizerbund, geehrt durch ihren Fleiß und ihre Redlichkeit, geachtet in allen Nachbarländern.

Dennoch gab es Einzelne, die sich in dem engen Kreise des fleißigen, wohlhabenden und freien Bürgerthums der kleinen, glücklichen Gemeine nicht wohl befanden. Es waren meist „unruhige Köpfe“, die Gewinn suchten, ohne fortarbeiten zu wollen, die daher in der fortarbeitenden Republik nicht an ihrem Platze waren. Aus dem Jahre 1771 liegt eine Denkschrift an den „Deputirten von Belfort“, den nächsten französischen höhern Beamten, vor, in welcher die Bittschriftler die französische Regierung belehrten, daß die „französische Krone“ aus dem westfälischen Frieden „Eigenthumsrecht“ auf die Stadt habe. Dann hieß es weiter in dieser Schrift: „Mühlhausen zieht die ganze Handlung und alles Geld des Oberelsasses an sich. Es genießt alle Vortheile und bezahlt keine Abgaben; durch Schleichhandel füllt es das Königreich mit aller Gattung von Waaren an, denen es als eine freie Stadt offen steht.“

Jedenfalls wäre diese Lage der Dinge kein Grund für die Mühlhauser gewesen, französisch werden zu wollen, im Gegentheil. Deswegen schlug die obige Denkschrift auch vor, Mühlhausen seinem „rechtmäßigen Oberherrn“, wenn’s nicht durch Unterhandlung gehen wolle, durch Gewalt zu unterwerfen. Zu dem Ende solle man den Grafen von Artois zum Landgrafen des Elsasses ernennen und ihm „die damit verbundenen Rechte über Mühlhausen und die übrigen Reichsstädte der Provinz verleihen. Wollten die Mühlhauser sich dazu nicht verstehen, so könnte man ihnen drohen, sie als Rebellen zu behandeln und zur Rückgabe ihrer Güter zu nöthigen.“

Es war das am Vorabende der Revolution. Der gute Rath fand kein Gehör. Ursache war wohl, daß Mühlhausen nicht zum großen deutschen Reiche, sondern zur kleinen freien Schweiz gehörte. Hätte es noch zum „Reich“ gehört, als Ludwig der Vierzehnte seine „Reunionen“ vornahm, so wäre es damals ziemlich sicher dem Loose von Straßburg verfallen gewesen.

So war es und blieb es eine Republik, bis auch das große Frankreich die Republik ausrief. Beide konnten sich nun freundnachbarlich die Bruderhand reichen. Aber das neugeborne republikanische Riesenkind begnügte sich nicht mit dem Händedruck, es umarmte das kleine Nachbarschwesterlein und – erdrückte es in dem ersten Liebeskusse.

Es ist ein wenig die Geschichte von dem Bauern, der mit seinem Kinde durch Nacht und Wind reitet, als Erlkönig kommt und dem Kinde lockt. So freundlich, so liberal, bis es doch zuletzt heißt:

„Und folgst du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!“

Die ersten Lockungen der großen Republik waren so milde, wie möglich. „Frankreich ist nun ja auch eine Republik, weswegen soll Mühlhausen da anstehen, sich mit der großen, schönen, freien französischen Republik zu vereinigen?“ – Aber die Mühlhauser freien Bürger waren vorsichtig; sie kannten ihre Nachbarn zu gut; sie wußten, was sie besaßen, und zweifelten, daß sie Besseres eintauschen würden, wenn sie sich der großen französischen Republik anschlössen. „Ja,“ antworteten die Zünfte, als der Versucher im Wintermonat 1792 zum ersten Male an sie herantrat, „ja, wenn sie ihrer künftigen Verfassung gewiß wären; wenn einige Anwendung sie erprobt hätte; wenn der Krieg, vorüber wäre; wenn sich eine ununterbrochene Reihe von Jahren des Friedens und Wohlstandes uns zeigte; – dann ließe sich schon auf diesem Gedanken verweilen. Jetzt kann er uns nur durch Noth vorgetragen werden.“

„Durch Noth!“ Das verstanden die damaligen Lenker der Republik in Paris sehr wohl. „Gewalt“ hätte zu laut geschrieen, hätte den schönen Redensarten des Tages den Boden eingestoßen. Man sagte ja, daß man die ganze Welt befreien wolle. Das war so recht mit der längst freien Republik Mühlhausen nicht möglich. Also anstatt „Gewalt“ hieß es:

„Und folgst du nicht willig, so brauchen wir – Noth!“

Mühlhausen lebte im Wesentlichen von seinen Fabriken; es war überdies für seine Bedürfnisse auf das Ausland angewiesen. Als nun die Mühlhauser nicht freiwillig in die französische Republik ein- und aufgehen wollten, wurden eines frühen Morgens in allen Nachbardörfern, auf allen Straßen, die von und nach Mühlhausen führten, Zollhäuser aufgerichtet, und alle ein- und ausgehenden Waaren schwer besteuert, wenn nicht einfach verboten.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_111.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)