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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Da schickten die Mühlhauser ihre besten Bürger und Rathsherren nach Paris, Nicolaus Hartmann, Köchlin, Johann Dollfus, Michael Hofer u. A., um hier bei den Ministern und Herrschern ein gutes Wort für die hart geschlagene kleine Schwesterrepublik einzulegen. Da ward denn ein wunderliches Spiel mit ihnen getrieben. So lange Roland, der edle Mann, Minister war, fanden sie bei diesem ein offenes Ohr, Trost und auch allerlei gut gemeinte Erlasse; aber die andern Minister, die sie zugeknöpft empfingen und mit freundlichen Redensarten abwiesen, legten die Roland’schen Erlasse bei Seite; und wie dann die Gesandten von Mühlhausen halb und halb hoffnungsfreudig heimkamen, fanden sie, daß unterdessen die nächste französische Localbehörde, der Departementsrath von Colmar den Strick, den man der armen kleinen Schwesterrepublik um den Hals gelegt, wieder um ein gut Theil fester zugeschnürt hatte. Die Gärten, die Fruchtfelder, die Weinberge, die Waldungen der Mühlhauser lagen auf französischem Gebiet; die nachbarlichen französischen Behörden störten, hemmten, verboten das Heimfahren der Früchte, des Weines, des Holzes. Endlich wurde auch die Zufuhr von Schlachtvieh und Getreide untersagt; und erst als Mühlhausen thatsächlich in Gefahr war, zu verhungern, erlaubte der Departementsrath von Colmar die Zufuhr von so und so viel Stück Schlachtvieh, so und so viel Säcken Mehl, wodurch dem augenblicklichen Verhungern vorgebeugt, die Vertheuerung der Lebensmittel aber in fortwährendem Steigen war.

Sie haben sich redlich gewehrt, die Mühlhauser Republikaner, gehungert, gedurstet, Verluste aller Art sich gefallen lassen; vier Jahre lang ertragen, was ihnen geboten wurde, ehe sie nachgaben. Hundertfünfzigtausend Livres, eine große Summe für jene Zeit, boten sie an als jährliche Abgabe, wenn man sie wie bisher in Freiheit ihr kleines Gemeindewesen ungestört selbst beherrschen lassen wolle. Es war vergebens.

Einen furchtbaren Druck übten zu Allem die Assignaten aus. Mühlhausen hatte große Capitalien, große Schuldforderungen in Frankreich ausstehen. Mit der Entwerthung der Assignaten versuchten die Nachbarn ihre Schulden in dem werthlosen Papiere abzutragen, und Mühlhausen gerieth in Gefahr, nicht nur durch die Zollschraube zu verhungern, sondern auch die Errungenschaften, die Ersparnisse seiner Väter zu verlieren.

So kam denn nach und nach den Mühlhausern die Erkenntniß, daß die geliebte Nachbarrepublik sie vollständig vernichten werde, wenn sie nicht ihre Freiheit opfern und in die französische Republik sich einreihen lassen wollten. Am 10. Pluviose des Jahres 6 (1798) wurde der Vertrag abgeschlossen, mit welchem die kleine Republik Mühlhausen zu Grabe geleitet wurde, um als Provinzialstadt der großen Republik Frankreich wieder von den Todten aufzuerstehen.

Fast alle Mühlhauser waren nach und nach mürbe geworden. Viele wollten schließlich kaum noch eine Verhandlung zulassen über die beabsichtigte Vereinigung, die zu unvermeidlich erschien. Die Mehrzahl beugte gezwungen und schweigend ihr Haupt. Einer der Geistlichen der Stadt zwar, der Helfer Peter Witz, hatte den Muth, bis auf den letzten Augenblick das, was er für Recht hielt, offen auszusprechen. Aber er wurde von den wenigen unruhigen Köpfen und von denen, die um jeden Preis diese Qual und Noth beendigt wissen wollten, überschrieen. Die Bürgerschaft ernannte Dr. Köchlin, Sebastian Spörlin, den Licentiaten Thiery und den Stadtmajor Michel Hofer zu ihren Gesandten mit unbeschränkter Vollmacht, um den Vertrag in Paris abzuschließen – und so wurden die Mühlhauser Schweizerrepublikaner zu Franzosen.

Ob sie es wurden?

Wir zweifeln sehr daran.

Viele möchten gern Franzosen sein, Viele die Franzosen spielen.

Wir glauben kaum, daß sie – Franzosen sind, ja, Franzosen werden.

Daß sie es zur Zeit, als Herr Emil Sauvestre[WS 1], der geistvolle französische Schriftsteller, sie besuchte und über diesen Besuch in der Revue de Paris im Jahre 1836, nachdem Mühlhausen also schon vierzig Jahre französisch gewesen war – einen sehr geistreichen Reisebericht erstattete, noch nicht waren, mögen ein paar Stellen aus diesen lichtvollen Schilderungen beweisen.

Es heißt hier:

„Obgleich die Bevölkerung von Mühlhausen eine Mischung von Elsassern, Schweizern, Tirolern, Juden und Franzosen aus dem Inlande ist, so herrschen doch die deutsche Sprache und der deutsche Charakter vor. Es genügt übrigens, in ein Wirthshaus einzutreten, um zu erkennen, daß Ihr nicht mehr in Frankreich seid.“

Wir wiederholen, daß Herr Emil Sauvestre so spricht, nicht wir! Und so lassen wir ihn weiter reden:

„Die Kälte der Aufnahme findet sich nicht allein in den Wirthshäusern; man ist derselben in ganz Mühlhausen, mit Annahme der großen Industriellen und einiger ‚Fremden‘, die die Art des Landes nicht angenommen haben, ausgesetzt. Ihr findet dieselbe vorzüglich bei den alten Kaufleuten, bourgeois de pure race, die sich ärgern, wenn Ihr den Namen ihrer Stadt französisch aussprecht. Erwartet, in ihre Boutique eintretend, keine jener den Pariser Kaufleuten so gewöhnlichen freundlichen Zuvorkommenheiten. Der Mühlhauser Krämer spricht nie, wenn er raucht, und er raucht beständig.

Aber was vor Allem dazu beiträgt, in Mühlhausen die Wildheit der Formen zu erhalten, ist die Abwesenheit der gesellschaftlichen Verbindungen und der Mangel aller eleganten und literarischen Erziehung. Den ganzen Tag in seinen Fabriken beschäftigt, kommt der Industriel nie nach Hause, als um zu essen und zu schlafen. So schließt der Kreis derjenigen, mit denen er umgeht, nur seine nächsten Bekannten ein; übrigens spricht er auch in diesen Familiencirkeln nur wenig; ermüdet von den Arbeiten des heutigen Tages und den Sorgen des morgigen, begnügt er sich gewöhnlich damit, in Gesellschaft zu verdauen. Was den Unterricht des Kindes anlangt, so beschränkt sich dieser ausschließlich auf die allernothwendigsten Elemente, um die speciellen Studien und die gewerbliche Erziehung zu vollenden. Horaz hat uns ein treues Bild dieser Erziehung hinterlassen, die ebenfalls die der jungen Römer seiner Zeit war: Man lehrt sie einen Würfel durch complicirte Mittel in hundert Stücke zu theilen. ‚Sohn des Albinus, sage mir, wie viel bleibt übrig dann, wenn man von fünf Unzen eine wegnimmt?‘ – ‚Ein drittel Pfund.‘ – ‚Vorzüglich, Du wirst Dein Gut zusammenhalten können.‘

Auf diese Lehren beschränkt sich der Unterricht der Lehrer; von dem poetischen Elemente, von der Kunst der Wohlredenheit ist keine Sprache. Die schönen Wissenschaften sind für das Mühlhauser Kind, das seine Studien beendigt, das, was Amerika vor Columbus war. Es hat vielleicht nie daran gedacht, daß die Sprache zu sonst Etwas gut sein könne, als dazu, eine Rechnung zu verhandeln, oder eine neue Verfahrungsart in der Färberei zu beschreiben. Seine Intelligenz hat nie die langen Reisen durch die reichen Sprachen des Alterthums gemacht, von denen man beladen mit Andenken und Poesie zurückkommt; die Sprache, die es spricht, ist ein barbarisches Patois, das ihn die Amme stottern gelehrt hat, oder ein Deutsch-Französisch, wovon ein Deutscher ihm die Regeln beigebracht hat.

Wir müssen gestehen, um die Wahrheit zu sagen, daß seit einigen Jahren die literarische Erziehung einige Fortschritte in Mühlhausen gemacht hat. Die Reorganisation des Collegs hat diese Bewegung geschaffen und unterhalten.“

Und wir freuen uns, heute hinzufügen zu dürfen, daß diese Fortschritte groß waren, einzelne sehr ausgezeichnete Ergebnisse – Charles Dollfus und Neffzer – geliefert haben, sind aber deswegen nicht weniger überzeugt, daß Herr Emil Sauvestre Recht behalten hat und haben wird, wenn er fortfährt und sagt:

„Aber es wird noch eine gute Weile hingehen, ehe die Resultate bei der jungen Generation im Ganzen sich geltend gemacht haben werden. Die ersten Eindrücke der Kindheit sind zu stark. Das praktische Leben hat für den Mühlhauser mit dem Tage angefangen, wo er zum ersten Male das Licht sah; mit fünf Jahren weiß er den Preis der Kohlen, mit acht Jahren versteht er die Dampfmaschine, mit fünfzehn Jahren ist er Contremaitre und verdient dreitausend Franken. Wo ist das Mittel, solche Einflüsse mit einer Rede Cicero’s, mit einer Tragödie Racine’s zu bekämpfen. Daher werdet Ihr vergebens versuchen, ihn für diese unproductiven Studien zu interessiren, und in seiner Seele die Stimme der eingeschläferten Feen zu erwecken. Die einzige Egeria, die hier wohnt, und auf deren Rathschläge er hört, ist die Arithmetik.

Aber glaubet deswegen nicht, daß diese industrielle Voreingenommenheit das Zeichen einer gemeinen Gewinnsucht sei. Diese Menschen, die seit ihrer Jugend nur die positive Seite des Lebens studirt haben, sind weder geizig noch hartherzig; ihr Herz regt

Anmerkungen (Wikisource)

  1. gemeint ist Émile Souvestre, vgl. die Berichtigung (Die Gartenlaube 1871/9)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_112.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)