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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

sich bei der Bitte; das Almosen füllt ihre Hände, nicht das knickerige und nutzlose Almosen des Rentiers, sondern das fruchtreiche Almosen, das königliche Almosen, das aus immer dem Hunger das Thor verschließt. Die alte bürgerliche und christliche Gemeinschaft ist in Mühlhausen noch nicht gänzlich zerstört; die heilige Gleichheit der alten Schweizerrepubliken besteht hier noch; der Reiche ist dem Armen gegenüber nichts als ein glücklicherer Bruder, der besser in dieser Welt reüssirt hat, und die Waise ohne Hülfsmittel wird zur Mündel aller Welt.“[1]

Der Franzose, der geistreiche Sohn des Pariser Lebens – er hatte kein Verständniß für das Wesen der Mühlhauser. Das verhindert ihn nicht, diesem Wesen, das in Wahrheit mit seinen guten und schlechten Eigenschaften germanisch, echt deutsch ist, die gebührende Achtung zuzuerkennen. Der Gallier zieht gewissermaßen scheu den Hut vor dem Germanen ab. Und so sagte Herr Emil Sauvestre weiter:

„Laßt Euch nicht durch ihr Aeußeres, nicht durch ihre Sprache abhalten; wenn Ihr sie wirklich beurtheilen wollt, besucht ihre Ateliers. Dort findet Ihr ihre Intelligenz übersetzt, nicht durch Worte, aber durch die kunstreichsten Einrichtungen, wunderbaren Verfahrungsweisen, bewunderungswürdige Maschinen. Denn diese einfachen, und diese so wenig wohlredenden Menschen sind in alle Anwendungen der praktischen Wissenschaften eingedrungen; diese Phantasie, so kalt beim ersten Anblick, ist unergründlich in fruchtbaren Schöpfungen; diese Geister, die Euch so schwerfällig vorkommen, erfinden alle eleganten Capricen der Mode; und aus den rauhen Händen dieser Cyclopen gehen jene graciösen Gewebe hervor, die jeden Sommer Eure Töchter verjüngen und Eure Frauen verschönern.

In Mühlhausen ist es nicht Brauch, daß der Handwerker auf Euren Wunsch horcht. Wenn Ihr ihn eine Arbeit, an die er nicht gewöhnt ist, machen lassen wollt, so schüttelt er das Haupt ohne Umstände und antwortet: ‚Dergleichen macht man in Frankreich, hier ist das nicht Brauch!‘ Man begreift, daß man anfangs einige Mühe hat, sich dergleichen Forderungen zu fügen. Wenn man mit seinen Gewohnheiten ausziehen zu können hofft, ist es hart, sich auf einmal in einer anderen Welt zu befinden, die man hinnehmen muß. Die Weisen ergeben sich in ihr Geschick, – aber es giebt auch solche, die zarter fühlen, sich empören und die Flucht nehmen!“

Seit Emil Sauvestre dieses prächtige Bild des Mühlhausers gezeichnet hat, sind nun wieder mehr denn dreißig Jahre vergangen. Aber das würde nicht verhindern, daß, wenn heute ein ebenso geistreicher Pariser, ohne Vorurtheil, ohne „Absicht“ nach Mühlhausen käme, er unserm Urtheile nach vollkommen die gleichen Eindrücke davontragen und ebenso wie Emil Sauvestre erkennen würde, daß hier „die deutsche Sprache, der deutsche Charakter vorherrschen,“ daß er „nicht mehr in Frankreich“ sei; wie er denn ebenso oft von unvoreingenommenen Mühlhausern auch heute noch die Antwort vernehmen würde: „Dergleichen macht und thut man in Frankreich, hier ist das nicht Brauch!“

Jedem das Seine!

Venedey. 


Um Paris herum.
Von Friedrich Gerstäcker.
I.

Draußen donnern die Feuerschlünde und manchmal zittern die Scheiben in den Fenstern von dem furchtbaren Gedröhn der Batterien, aber sonderbar, wo man sich sonst vielleicht, bei dem Getöse einer Schlacht, beängstigt, beunruhigt fühlen konnte, da ist hier gerade das Gegentheil der Fall, ja, man horcht sogar ungeduldig hinüber, wenn das Feuer einmal zu schweigen beginnt.

Das war ein Jubel hier, als nur erst einmal die Schanzarbeiten begannen, und die Soldaten hackten und schaufelten mit einem wahren Feuereifer und in den Compagnien sangen sie wieder ihre deutschen patriotischen Lieder, besonders die „Wacht am Rhein“, die ich hier zuerst wieder gehört. An ihnen sollte es wahrlich nicht liegen, wenn die heißersehnte Beschießung auch nur um eine Minute verzögert würde. Aber immer noch verging Woche auf Woche – jeder Tag brachte neue Vorräthe von Munition und Lebensmittel die Hülle und Fülle, und die Soldaten auf den Vorposten hatten einen schweren Stand. Sie wurden unaufhörlich, besonders von dem an allen Ecken und Enden befestigten Mont Avron beschossen und durften nicht antworten. Viele arme Teufel fielen unter den mörderischen Geschossen der Feinde, aber trotzdem arbeiteten die übrigen unverdrossen fort, denn sie wußten, daß ihnen jetzt bald Gelegenheit geboten wurde, die freundlichen französischen Eisengrüße mit gleicher Münze zu bezahlen.

Und der Tag kam – auf dem Mont Avron wimmelte es von Soldaten, die da drüben in größter Sicherheit exercirten und manövrirten, Signale bliesen, trommelten und aus ihren zahlreichen Batterien unaufhörlich, ja selbst dahin schossen, wo sie nur einen einzelnen Mann erblickten.

Unsere Batterien waren verdeckt erbaut worden, so daß der Feind die Arbeit gar nicht bemerkt zu haben scheint und sie wenig – meistens wohl nur durch Zufallsschüsse belästigte. Eine Batterie stand hinter einer Mauer, andere hinter Bäumen und Gestrüpp. Da fielen eines Morgens, wie mit einem Schlage – diese Deckungen und jetzt fegten unsere schweren Granaten dort hinüber, mitten zwischen den Soldatenschwarm und richteten eine fabelhafte Verwirrung an. Im ersten Augenblick stob Alles auseinander und fuhr durcheinander, aber dies Gefühl der Ueberraschung dauerte nicht lange, denn als Granate auf Granate folgte, gefiel der Besatzung da oben der Punkt nicht mehr und in wenigen Stunden selbst war der Platz von jeder Infanterie geräumt. Nur die Artillerie hielt noch eine Weile Stand, fand aber doch auch bald, daß ihr die feindlichen Geschütze zu heiß wurden, und gab die bisher allerdings unangefochtene Stellung preis.

Doch das ist eigentlich schon eine geschichtliche Thatsache und nicht gerade das, was ich dem Leser der Gartenlaube erzählen möchte. Meine Absicht ist, ihm womöglich einen Ueberblick über diesen Theil des Gefechtsfeldes zu geben, so daß er sich ein Bild von den riesigen Belagerungsarbeiten wie dem Terrain selber machen kann. Ich weiß recht gut, daß es nicht eben leicht ist, aber der Versuch muß jedenfalls gewagt werden.

Ich liege hier – nur eben außer Schußweite der Forts, in Le Vert galant, dem Hauptquartier des Prinzen Georg von Sachsen, und vor allen Dingen wird es nöthig sein, ein paar Worte über diesen Punkt selber zu sagen, da eine Schilderung des kleinen Platzes zugleich den Charakter der ganzen Gegend wiedergiebt. Diese besteht allerdings aus einer weiten großen fruchtbaren Ebene, aber wohin das Auge auch fällt, ist sie mit kleinen reizenden Ortschaften, Villen, Dörfern, Gärten oder industriellen Anstalten wie besäet. Diese Städtchen oder Dörfer haben nur das eine Unangenehme, daß sie fast sämmtlich, und mit sehr wenig Ausnahmen, eine einzige endlose Straße bilden. Es scheint und ist auch wohl so, daß keiner der Bewohner, die sich hier ein Haus gebaut, von dem Hauptverkehr dieser nach Paris hineinführenden Straßen ausgeschlossen bleiben wollte, was sicherlich in irgend einer Seitenstraße der Fall gewesen wäre, also deshalb keine Seitenstraße, und nur der eine lange Häuserdarm, der den Hindurchwandernden fast zur Verzweiflung bringt.

Glücklicher Weise sind die Franzosen in Allem, was Straßenbau betrifft, das, was sie im Ganzen sich zu sein dünken, nämlich „das erste Volk der Erde“, denn ihre Verkehrswege lassen Nichts zu wünschen übrig und Louis Napoleon hat sich da wenigstens, an die Arbeiten Louis Philipp’s anknüpfend, ein Verdienst um die sonst arg genug gemißhandelte Nation erworben. Diese ganzen Straßen sind mit großen viereckigen Steinen gepflastert, und wenn das nicht wäre, so würde bei dem jetzigen Schmutzwetter jede Verbindung entweder unterbrochen sein, oder doch wenigstens furchtbar erschwert werden. Jetzt geht es; der Schlamm liegt allerdings auf den Steinen, trotzdem daß ganze Colonnen Soldaten mit dem Besen auf der Schulter ausmarschiren und daran arbeiten, aber man hat doch festen Untergrund, wenn auch freilich reine Stiefel nur so lange bestehen, bis man den zweiten Schritt aus dem Haus hinausthut.

  1. Es ist nicht selten in Mühlhausen, für unglückliche Familien, die ihre Nährer verloren, Subscriptionen zu sehen, deren Resultat sich auf dreißig- bis vierzigtausend Francs beläuft.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_113.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)