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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Straße und konnte nicht sehen, woher das erneute Feuer kam. Rechts vom Hausflur lag die Treppe, mit einigen Sätzen waren der Officier und seine Leute oben in der ersten Etage; das erste Zimmer, in das sie eintraten, gewährte ihnen einen Anblick auf die Straße, den sogenannten Boulevard Negrier. Mit einem Blicke wurde die Situation klar. Die Straße war an der gegenüberliegenden Seite unbebaut; man sah von den Fenstern des Lazareths gerade auf offenes Terrain, auf einen Hügel, der mit Erdaufwürfen und Hecken umgeben war. Von dort kamen die Kugeln herüber; sie waren auf die übrigen Mannschaften der Jägercompagnie gerichtet, die unten auf dem Boulevard angerückt kamen. Bald befanden sich dieselben im heftigsten Feuer. Zwei von seinen Leuten schickte Lieutenant Kramer-Möllenberg hinab, um den ohne jede Deckung auf der Straße den feindlichen Geschossen ausgesetzten Cameraden die Thür des Hauses öffnen zu lassen, mit den anderen begab er sich nach dem obersten Bodenraum; dort hatte er vom Garten her Dacherker wahrgenommen; das waren geeignete Stellen, um die Jäger zu postiren und hinüber auf die Schützen hinter den Hecken und Gräben Feuer zu geben. An zwei Erkern stellte er seine Leute auf; aber es waren in der Front des Hauses noch zwei vorhanden, zu denen der Zugang durch eine durchzogene Bretterwand verschlossen war. Diese wurde mit Kolben und Absätzen eingeschlagen; das Holzwerk fiel prasselnd zu Boden und zu gleicher Zeit wurden durchdringende Schreie vernehmbar. Einen Moment standen die Jäger verblüfft. Sollten dort Diejenigen sich versteckt haben, die aus den Fenstern der Ambulance geschossen hatten? Das wäre ein guter Fang. Im Hintergrunde des Raumes standen zwei Betten; in diesen mußten sie sich verkrochen haben. Herzhaft faßten die Jäger zu und zogen – keine Franctireurs, wohl aber zwei Nonnen hervor, zwei barmherzige Schwestern. Stotternd und zitternd erzählten sie, daß sie beim Nahen der „Prussiens“ vom Garten her sich auf den Boden geflüchtet hätten in die Betten der beiden Krankenwärter der Ambulance. Der Officier bedeutete sie, daß sie sich in die unteren Räume zurückbegeben möchten und dort ihres Dienstes warten; sie befänden sich unter dem mächtigsten Schutze, dem des rothen Kreuzes, des Zeichens des Friedens und der Menschlichkeit.

Aus den Dacherkern eröffneten die Jäger ein lebhaftes Feuer auf die Feinde gegenüber, aber dieselben erwiderten es nicht minder stark und mitten in das Knattern und Knallen mischte sich das Krachen der unter den Schlägen der Jäger zusammenbrechenden Hausthür. Nun war den Cameraden draußen auf der Straße eine Schutzwehr gegen die wie Hagelwetter fallenden feindlichen Kugeln geöffnet und im Nu strömten sie mit ihrem Compagnieführer Hauptmann v. Wildemann an der Spitze zum Hause herein, um wie ihre Cameraden von den Dacherkern sowie den Fenstern des Erd- und ersten Geschosses aus ihr Feuer auf die Knicks und die Erdaufwürfe zu eröffnen.

Da gellte ein furchtbarer Schrei durch das ganze Haus.

„Was ist geschehen?“ riefen die Officiere, von denen der eine vom Flure herauf-, der andere vom Bodenraume herabkam. Es war ein erschütternder, Mark und Bein durchdringender Schrei – er klang wie der letzte Laut eines mit dem Tode Ringenden. Sie traten Beide in ein kleines Zimmer der ersten Etage. Dort stand ein Jäger mit einem blutigen Hirschfänger in der Hand und zeigte auf ein Bett an der Wand; in diesem lag ein Blousenmann in vollem Anzuge mit einem Gewehr an der Seite, todtenbleich, röchelnd, in den letzten Zügen; aus einer Brustwunde quoll schwarzes Blut.

„Der hat geschossen. So wie er da ist, mit Stiefeln und Gewehr, habe ich ihn unter der Bettdecke gefunden, und als ich die Decke wegzog, da wollte er noch auf mich anlegen, da habe ich meinen Hirschfänger aufgesetzt und ihm sein Theil gegeben. Allen muß es so gehen, die aus einem Hause mit dem rothen Kreuz schießen. Er hat seinen Lohn.“

In der Thür erschien jetzt ein junger Priester. Nach allen Anzeichen, nach den Schreckensmienen zu schließen, nach der stummen Frage, die auf seinen Mienen lag, schien er ebenfalls den Schrei vernommen zu haben und war gekommen, um nach der Ursache desselben zu forschen. Hinter ihm wurden noch einige jüngere Geistliche, auch die barmherzigen Schwestern in der Thür sichtbar.

„Wer sind Sie?“ frug der Hauptmann den Priester.

„Ich bin der Aumonier dieser Ambulance.“

„Wer ist der Vorsteher derselben?“

„Der bin ich auch.“

Dabei stellte sich der Officier so, daß er dem Priester den Anblick des Sterbenden verdeckte.

„Man hat aus den Fenstern Ihres Hauses auf meine Leute geschossen.“

„O nein, mein Capitain! Wie wäre das möglich? Nicht Ein Schuß ist aus meinem Hause abgegeben worden! Unser Haus ist ein Haus des Friedens –“

„Das sollte man glauben, und doch ist es geschehen.“

„Nein, nein, nein – das ist ein Irrthum!“

„Aber meine Leute haben Ohren zu hören und Augen zu sehen – sie haben die Kugeln bekommen. Sie sind übrigens zu gewissenhaft, etwas zu behaupten, wovon sie nicht die feste Ueberzeugung haben.“

„Aber ich schwöre es Ihnen, mein Capitain, daß dem nicht so ist –“

„So – also Sie schwören – nun denn, werden Sie hier im Angesichte dieses Sterbenden auch noch Ihren Schwur aufrecht halten?“

Damit trat er zurück, so daß der Priester den vollen Anblick des in den letzten Zügen liegenden Franctireurs hatte. Der Aumonier wurde blaß wie der Sterbende, und ein fast convulsivisches Zittern überfiel ihn. Dann aber, als er sah, daß noch Leben ist diesem sei, sprang er auf das Bett zu, holte ein Crucifix aus seiner Soutane und hielt es dem Röchelnden vor die brechenden Augen. Dabei bewegten sich seine Lippen in eifrigem Gebete, bis dieser den letzten Seufzer von sich gegeben hatte. Dann brach der Geistliche in Klagen und Vorwürfe aus, daß der Todte ohne die Sacramente hinübergegangen sei, daß dieses Haus der Schauplatz einer solchen That geworden sei.

„Sie haben sich nur allein die Schuld zuzuschreiben,“ erwiderte ihm der Officier, der des Französischen in vollendeter Weise mächtig war. „Sie haben die Thatsache abgeleugnet, Sie sind überführt worden – Sie sind der Mitschuldige dieser Fanatischen. Sie haben das rothe Kreuz geschändet. Sie haben die Fahne, unter der Sie dienen, verrathen, das Zeichen, das über Ihrem Hause weht und das allem Kampfe wehrt, das haben Sie gefälscht. Ich habe das Recht und die Macht, Sie in diesem Augenblicke noch füsiliren zu lassen.“

Bei der Drohung des Erschießens brach ein allgemeines Wehgeschrei aus, von dem Aumonier sowohl als seinen Collegen und den barmherzigen Schwestern.

„Und ich werde es thun, wenn Sie noch länger leugnen werden.“

Eine peinliche Pause entstand. Das Gesicht des Geistlichen hatte eine erdfahle Farbe angenommen, seine Augen hafteten am Boden; mit Angstblicken hingen die anderen Priester und die Nonnen an seiner sich nur mit Mühe aufrecht haltenden Gestalt. Endlich öffneten sich seine Lippen und er sagte:

„Ja, es ist aus dem Hause geschossen worden.“

„Dann liefern Sie mir die Schuldigen aus.“

„Sie sind nicht mehr im Hause.“

„Wo sind sie?“

„Sie haben sich bei Ihrer Annäherung dort nach jener Höhe zurückgezogen; nur dieser hier hat nicht mehr Zeit gehabt, sich zu retten.“

„So! Ich werde mich selbst überzeugen, ob die Kranken, die in den übrigen Stuben sind, lauter Kranke sind. Ich werde das Haus besetzt halten und dann einen Arzt schicken, der eine Untersuchung anstellen soll.“

Der Officier wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinen Mannschaften zu, die auf seinen Befehl an den Fenstern Stellung genommen die Jalousien derselben geschlossen hatten und zwischen den Oeffnungen hindurch die gegenüberliegende Position wacker beschossen. Von dort wurde das Feuer mit großer Heftigkeit erwidert, dasselbe mußte unter allen Umständen zum Schweigen gebracht werden, und dazu war es nothwendig, daß die Schützenlinien verlängert und der Feind auch vom nebenangelegenen Hause noch beschossen wurde.

„Aber die Thür desselben ist verschlossen,“ bemerkte einer der Jäger.

„Woher wissen Sie das?“ fragte der Hauptmann.

„Weil wir schon vorhin in dem Hause Deckung suchen wollten, ehe man uns hier die Thür öffnete.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_149.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)