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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Ein Ausflug nach Belfort.


Eine Reise aus der Schweiz in’s Elsaß bedingte noch vor wenigen Tagen den Besitz einer Legitimationsurkunde. Dem Besucher eines Schauplatzes, auf welchem der Kanonendonner der letzten, für Deutschland so ruhmvollen und folgenreichen Kämpfe kaum verstummt war, durften auch gewichtige Empfehlungen aus einflußreicher Hand nicht fehlen. So führte mich denn mein Weg zunächst nach Bern, wo mich der deutsche Gesandte, Generallieutenant von Röder, sehr freundlich empfing und auf mein Beglaubigungsschreiben der Gartenlaube hin sofort mit der gewünschten Postkarte versah. Der nächste Morgen fand mich bereits auf der Fahrt nach Basel. Eine Schilderung dieser kurzen Fahrt würde unter gewöhnlichen Verhältnissen und aus rein touristischem Standpunkte nicht in den Rahmen meines Berichtes passen. Aber eben jetzt, da so Viele der internirten Franzosen zu einer größeren Freiheit ihrer Bewegungen gelangt sind, und das Land als Touristen in jeder Richtung durchkreuzen, gewinnt der Aufenthalt im Waggon für jeden ruhigen Beobachter, besonders für den deutschen, ein erhöhtes menschliches und nationales Interesse. Ist ihm doch dadurch Gelegenheit geboten, aus dem regen Meinungsaustausche zwischen Internirten und Eingeborenen ein Spiegelbild der vorherrschenden Stimmungen und Anschauungen zu empfangen und daraus für die verschleierte Zukunft seines neugeborenen Vaterlandes Folgerungen zu ziehen. Leider sind in diesem Zukunftsbilde die Farben trübe und der Horizont schwer umwölkt. Der Deutsche im Verkehr mit Schweizern findet nur in den höheren Gesellschaftskreisen laue und vereinzelte Sympathien. Bei der großen Mehrzahl und besonders bei dem Landvolke wendet sich alle Freundlichkeit, alle Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft den Franzosen zu. Kein Wunder, daß dieser wohlthuende Empfang die internirten Nachbarn veranlaßt, ihr Inneres recht offen herauszukehren und ihre Gesinnungen unverhüllt auszusprechen. Und was dabei hervortritt, das läßt sich in wenigen Worten dahin zusammenfassen: „tiefer, glühender Haß, und fürchterliche Rache, sobald sich hierzu Möglichkeit bietet.“ Nur ein französischer Capitain hatte den moralischen Muth, dem allgemeinen Schreie nach Rache entgegenzutreten, die deutschen Siege als das Ergebniß unserer allgemeinen höheren Bildung anzuerkennen, und den kräftigen Aufschwung Frankreichs nur von seiner friedlichen Entwicklung und der durchgreifenden Reform des französischen Unterrichtswesens zu erwarten.

Wie lange wird es dauern, und wird es überhaupt dahin kommen, daß diese vereinzelte Anschauung sich in weiteren Kreisen Bahn bricht, um auf Frankreichs künftige Entschließungen und Geschicke Einfluß zu üben?!

Die Hoffnung, daß es sich zum Besseren, zur dauernden Befriedigung der beiden großen Nachbarvölker wenden könne, ist erlaubt; aber diese Hoffnung ist eben jetzt noch ein schwaches Kind, und konnte meine trüben Gedanken über das Ergebniß aller seit Wochen gesammelten Erfahrungen nicht bewältigen. So kam ich denn, durch die Begegnungen und Gespräche im Waggon noch mehr verstimmt, nach Basel und einige Stunden später mit dem Abendzuge der seit Kurzem wieder eröffneten französischen Ostbahn über die Grenze unseres im heißen Kampfe wiedererrungenen Elsasses.

Wie heiter und friedlich lag das schöne Land im Schimmer der Abendsonne vor unseren Augen! So heiter mit seiner weitgedehnten, schon von Frühlingswehen angehauchten und vom Sonnenstrahl rosig überglühten Ebene, als habe kein schwerer Sturm darüber hinweggebraust! So heiter, als seien nicht Tausende froher Existenzen hier geknickt worden, als sei alles Leben und Treiben hier friedvoll, gleich der schönen Natur. Und doch ist es anders; doch tritt dem schärfer blickenden Auge schon bei dem ersten Schritte ein Zeichen außergewöhnlicher Zustände entgegen. Kein Feld bebaut, keine Wiese gedüngt, kein fleißiger Arbeiter, kein Gespann auf weite Ferne wahrzunehmen! Und dieselbe Erscheinung in der ganzen Ausdehnung, die ich bis Belfort zu durcheilen hatte. Wie tritt uns hier das erste Wahrzeichen entgegen, daß wir in diesem altdeutschen Lande nicht als Befreier, sondern als Feinde betrachtet werden! Und mit jedem weiteren Schritte mehren sich die Zeichen, daß Mißtrauen, Haß und passiver Kampf hier noch kein Ende gefunden haben. In St. Louis traf unser Zug, in dem kein Platz unbesetzt, und reichlich die Hälfte von dem schöneren Geschlechte eingenommen war, auf die ersten Repräsentanten der Wacht am Rhein, Großherzoglich badische Militärs traten in jeden Waggon, um die Prüfung der abgeforderten Reisepässe vorzunehmen. Bedenklicher gestaltete sich die Sache in Mühlhausen, wo wir bei der Ankunft plötzlich unsere Waggons von bewaffnetem deutschen Militär mit aufgepflanzten Bajonneten umzingelt fanden. Gleichzeitig wurde allen Reisenden der militärische Befehl ertheilt, in den Waggons zu bleiben, bis die Prüfung ihrer Papiere und Bagagen erfolgt sei. Es war nahezu komisch, die ängstliche Aufregung, welche sich aller Reisegefährten bemächtigte, aus dem ruhigen Standpunkte Ihres Berichterstatters zu beobachten. Die Einen glaubten an Unruhen in Mühlhausen, die Anderen vermutheten, daß eine verdächtige Persönlichkeit oder das beabsichtigte Einschmuggeln verbotener Druckschriften aus Basel signalisirt worden sei. Letzteres dürfte auch das Wahrscheinlichste sein; glücklicherweise aber verhalf mir mein Talisman rasch zur ersehnten Freiheit. Ich wartete den Ausgang der Untersuchung nicht ab und eilte in den Gasthof, um dort leider zu erfahren, daß die Eisenbahn zwischen Mühlhausen und Belfort noch nicht in Betrieb sei, da der große Viaduct zwischen Dannemarie und Retzwiller von den Franzosen durch Sprengung mehrerer Pfeiler unfahrbar gemacht, und die Wiederherstellung erst in zwei bis drei Wochen zu erwarten sei. Einstweilen, sagte man mir, gehe die Eisenbahnfahrt nur bis Dannemarie und dort müsse man das Weiterkommen im Wagen dem Zufalle überlassen, oder den dreiundzwanzig Kilometer langen Weg nach Belfort zu Fuß zurücklegen.

Noth kennt kein Gebot! Fort mußte und wollte ich; also rasch zur Eisenbahn. Hier dürfte es am Platze sein, über den unter deutscher Verwaltung stehenden Betrieb der kurzen Strecke bis Dannemarie einige Worte zu verlieren. Denn diese Bemerkungen, die ich zum Theil eigener Erfahrung danke, dürften gerechte Beschwerden der einheimischen Bevölkerung zur Sprache bringen, und deren auch durch deutsches Interesse gebotene Abstellung anregen. So darf man mit Recht fragen, ob es billig sei, für die Strecke „Mühlhausen bis Dannemarie“ denselben Fahrpreis zu fordern, der unter französischer Herrschaft für die ganze Fahrtlinie „Mühlhausen bis Belfort“ galt; – ob es billig sei, den vollen Fahrpreis bis Dannemarie auch von Jenen einzuheben, welche die Eisenbahn nur bis zur Zwischenstation Altkirch benutzen; – endlich ob es billig sei, den Preis für Fahrbillets zweiter Classe abzufordern und die Besitzer dieser Billets in die Waggons dritter Classe zu verweisen, während die im Zuge befindlichen Waggons zweiter Classe den mitfahrenden Truppen eingeräumt werden. Es mag sich hier um provisorische Einrichtungen handeln und jede einzelne Beschwerde als geringfügig betrachtet werden. Aber Fragen dieser Art streifen sehr nahe an das angeborene Gefühl von Recht und Unrecht; sie haben überdies den Nachtheil, Vergleichungen zwischen jetzt und früher hervorzurufen; und im selben Maße, als der Elsässer für jede Verletzung seines wahren oder vermeinten Rechtes höchst empfindlich ist, in gleichem Maße ist es Aufgabe der Deutschen, diesem Rechtsgefühle Rechnung zu tragen, und dem neugewonnenen Bruder mehr und Besseres zu bieten, als die Träger der früheren Herrschaft.

Dannemarie selbst, etwa fünf Minuten vom Bahnhofe auf einer kleinen Anhöhe gelegen, ist ein freundliches Dorf, dessen deutscher Typus entschieden ausgesprochen ist und den deutschen Besucher sofort anheimeln würde, auch wenn nicht aus allen Häusern gutmüthige deutsche Gesichter hervorblickten und der Klang deutscher Sprache überall hörbar wäre. In dem einzigen Gasthause des Ortes hat das deutsche Militärcommando seinen Sitz: an den Eingangsthüren sind deutsche Proclamationen angeheftet und unsere guten Landsleute wandern da überall so wohlgemuth und sorglos herum, als wären sie die wahren Einwohner des Ortes, und alle Anderen bei ihnen zu Gaste gebeten. Und bei alledem keine ersichtliche Spur von Gehässigkeit oder Unverträglichkeit. Die Wirthsleute und die Ortsbewohner, mit welchen ich sprach, gaben vielmehr den deutschen Truppen das Zeugniß strengster Disciplin und des anspruchlosesten Benehmens. Erst später freilich erfuhr ich, daß auch hier das friedliche und freundliche Nebeneinandergehen mehr auf Schein, als auf Wahrheit beruhe, weil die Dannemarier wieder an Frankreich zurückzufallen hofften.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_221.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)