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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


französische Menschenverlust auf sieben Procent der Civilbevölkerung berechnet. Noch jetzt fordern diese furchtbaren Krankheiten zahlreiche Opfer und die Keime dieser Seuche werden noch lange fortwuchern. Denn trotz aller Maßregeln, welche die königlich preußische Regierungsbehörde unter Leitung des Präfecten Freiherrn v. d. Heydt so einsichtsvoll als thätig in Vollzug setzt, bestehen noch viele Räume, aus denen sich die verderblichste Miasmen entwickeln. So ist der große place du manége in seiner ganzen Ausdehnung mit einer dicken Schicht halbverfaulten Strohes bedeckt. Auf diesem Platze ist ein fortwährendes Kommen und Gehen der Fuhrwerke, welche die Militärverwaltung für ihre verschiedene Dienstzweige benöthigt. Es wird dadurch täglich eine neue Schicht von Unreinigkeiten zugeführt, und die Ausdünstungen wirken so penetrant, daß sie den abgehärtetsten Geruchsorganen lästig fallen. Auch an anderen Punkten der Stadt sind die Schutthaufen, welche am Beginne unserer Occupation vielfach die freie Circulation hemmten, nicht hinweggeräumt, und mögen, da die französischen Landstädte keineswegs durch übertriebene Reinlichkeit glänzen, manchen verborgenen Ansteckungsherd umhüllen.

Auf unsere Truppen haben die Krankheiten, welche die Stadtbevölkerung decimiren, noch keinen Rückschlag geübt. Trotz der unbeschreiblichen Anstrengungen, welche den Belagerern durch die in schwierigsten Verhältnissen auszuführenden Erdarbeiten, durch die ungünstige Witterung und durch wiederholte blutige Kämpfe zugemuthet wurden, haben unsere Truppen dasselbe heitere, ruhige und stramme Aussehen, als kämen sie von einer harmlosen Parade. Nur die Landwehr verrieth an einzelnen Individuen Spuren der Ermüdung, und der heiße Wunsch nach Rückkehr in die Heimath macht sich in den Reihen dieser ehrenwerthen Krieger, welche sich in allen Ereignissen des Feldzuges so glänzend bewährt haben, unverhohlen geltend.

Freilich bietet der Aufenthalt in einer arg verwüsteten Festungsstadt, inmitten einer fanatischen Bevölkerung, welche die Gewißheit hat, auch fortan bei Frankreich zu verbleiben, den Besatzungstruppen keine Annehmlichkeit. Ich selbst hatte mehr als Eine Gelegenheit, den Haß der Stadtbewohner und der zurückgebliebenen französischen Soldaten wahrzunehmen. Im Vorübergehen hörte ich zu wiederholten Malen die Worte: „Encore un Prussien! allez, nous prendrons notre révanche!“

Haß und Revanche, das sind die Stichworte des jetzigen Frankreichs, und der Gedanke, daß uns bald ein erneuter Waffengang mit den gedemüthigten Nachbarn bevorstehe, war mein einziger Begleiter, als ich zu vorgeschrittener Nachtzeit die racheglühende Stätte der Zerstörung verließ.

Eine wundervolle, wolkenlose Mondnacht goß ihren friedlichen Schimmer auf die verödeten Gefilde: alle Anklänge des Krieges waren verstummt. Aber in den Gemüthern gar Weniger wohnt der Friede, und mir wurde es schwer um’s Herz, als mehrere mit Hausgeräthe schwer bepackte Wagen der flüchtig gewordenen Landbewohner fast lautlos an mir vorüberrollten, um die verlassene Heimath wieder aufzusuchen. Wie mancher mag da eine eingestürzte, feuergeschwärzte Stätte gefunden und händeringend über das unverhoffte Elend gejammert haben! In dem Bestreben, solch Elend zu lindern, sollten sich Frankreich und Deutschland begegnen. Nur in diesem wechselseitigen Streben liegt der Keim zur Annäherung und Versöhnung, und in dem Vertrauen, daß die Zeit auch die edleren Seiten unserer hartgeprüften Nachbarn wieder zur Geltung bringen werde, liegt unsere einzige Hoffnung, daß der Friede fortdauern und uns die wiedergewonnenen deutschen Landeskinder als wahre Brüder entgegenführen werde.

Dr. Moritz Normann in Basel.


Blätter und Blüthen.

Der Spinnenesser. Der „Alte Heim“ steht nicht nur in Berlin, wo noch Viele leben, die tagtäglich mit Wohlgefallen sein freundlich Antlitz schauten, sondern, namentlich durch seine Biographie von Keßler, ein treffliches Buch, in ganz Deutschland in so gutem Andenken, daß man immer gern etwas Neues über sein ebenso liebenswürdiges als originelles Dasein erfährt.

Bekanntlich stammt dieser „Feldmarschall unter den Doctoren“, wie ihn der alte Blücher in dem heitern Toast als Collegen begrüßte, aus dem Meiningischen Dorfe Solz, wo die Heim noch heute gleichsam wie Erbpfarrer sitzen. Der Vater des „Alten Heim“, ein Magister vom besten alten Schrot und Korn, hat der Welt auch manche Anekdote geliefert. Eine davon möge hier stehen.

Der älteste seiner Söhne ward, nachdem er als Erzieher des Herzogs Georg, eines großen Fürsten auf einem kleinen Throne, wie ein geistvoller Schriftsteller ihn nennt, seine Aufgabe vollendet, in das Consistorium berufen. Nun kam es nicht selten vor, daß der alte Magister wegen starrsinnigen Benehmens von der geistlichen Behörde zur Verantwortung resp. Strafe gezogen wurde. Ein solcher Fall lag wieder vor. Er sollte wegen ungeeigneter Schreibweise einen Verweis erhalten. Als er nun in den Sitzungssaal eintrat und seinen Sohn mit an dem grünen Tische sitzen sah, wendete er sich auf ihn deutend mit den Worten an den Präsidenten: „Thut mir erst einmal da den dummen Jungen hinaus!“ und es half nichts, man mußte dem Alten willfahren.

Es war gewiß ein muthiges Stück Arbeit des Magisters und seiner Gattin mit einer Einnahme von nicht viel über dreihundert Thalern sechs Söhne studiren zu lassen. Das erklärt die patriarchalische Einfachheit, die in seinem Hause herrschte. Zur Winterszeit diente das ziemlich beschränkte untere Zimmer als Wohn-, Studir-, Schul-, Kinder- und Gesindestube zugleich, und zur Sommerszeit bestand die Bekleidung sämmtlicher Pfarrsöhne nur aus zwei Stücken, aus einem Hemd und einem Paar Beinkleidern. In dem schmucken Kirchlein aber bildet das von Meisterhand gemalte Brustbild des Magisters eine der Hauptzierden, und die Stätte des Friedhofes, auf welcher am 5. September 1775 die sechs Söhne desselben über dem Grabe der Mutter feierlich schwuren, bis zum Tode einander zu lieben und an Gott zu halten, führt von dieser Thatsache noch heute den Namen des Meininger Rütli.

Darüber, wie in Heim die Neigung erwacht sei, Arzt zu werden, berichtet Keßler bekanntlich Folgendes:

„Als der siebenjährige Krieg allerlei Kriegsvolk in das stille Solz führte, erschien auch eines Tages ein Stabsarzt mit einem großen mit breiten goldenen Tressen eingefaßten Hut als Einquartierung im Pfarrhause. ‚So ein Mann möchtest du wohl auch werden,‘ dachte der Knabe, und der Hut kam ihm nicht mehr aus dem Sinn.“

Allerdings mag wohl der goldbesetzte Hut eine äußere Veranlassung zum Hervortreten der in dem Knaben schlummernden Neigung gegeben haben; daß aber diese Neigung schon vorher da und wie fest sie begründet war, darüber habe ich als Beweis vor nicht langer Zeit in der durch ihr Jagdschloß historisch berühmten Zillbach einen noch unbekannten, aber sehr interessanten Zug aus dem Kindheitsleben des alten Berliners vernommen.

Ich traf dort eine Bäuerin aus dem Amte Sand, deren Eltermutter längere Zeit in dem Hause des Magisters als Magd gedient hatte. Sie erzählte mir als wohlverbürgte Familientradition Folgendes.

Als eines Morgens beim Frühtrunk von den Berufskreisen die Rede war, denen die älteren Söhne des Magisters sich zugewendet hatten, trat Ernstchen mit der bestimmten Erklärung: „Ich aber will Doctor werden“ an den Vater heran.

Dieser erwiderte: „Du bist wohl nicht gescheidt, Junge; dazu hätte ich kein Geld. Da würdest Du ja mehr kosten, als alle Deine Brüder zusammengenommen.“

Der Kleine ließ sich aber durch diese abfällige Antwort nicht abschrecken. „Doctor will ich werden! Doctor will ich werden!“ Das war das Verlangen, mit dem er immer wieder den Alten bestürmte. Da nun dieser wußte, daß der Kleine eine natürliche Scheu vor Spinnen hatte, so glaubte er darin ein wirksames Abschreckungsmittel zu finden.

„Dummer Junge,“ sagte er, „wie kannst Du Doctor werden! Du fürchtest Dich ja, wenn Du eine Spinne nur siehst, und ein Doctor muß Spinnen essen können, sonst ist er kein rechter Doctor nicht.“

Betrübt zog der Kleine ab. Aber von dem Tage an sah die Magd, wie er täglich in Scheune, Holz-, Viehstall und Küche auf die Spinnenjagd ging.

Nachdem etwa vierzehn Tage vorüber waren, trat er wieder vor den gestrengen Herrn Papa, ein großes, rings mit wohlgenährten Spinnen gespicktes Butterbrod in der Hand, mit den Worten: „Siehst Du, Papa, es ist mir schwer geworden, aber ich kann’s jetzt.“ Und darauf verzehrte er, scheinbar mit großem Behagen, bis zum letzten Rest das spinnenbelegte Brod.

„Nicht wahr, nun kann ich Doctor werden?“ rief er dann triumphirend aus.

Das rührte des Alten Herz, und er erwiderte: „Nun meinetwegen, Du Spinnenfresser! Für einen Pfarrer bist Du doch zu leicht und flüchtig, zu einem Quacksalber bist Du gut genug. Du wirst den Leuten schon weis machen, was Du willst.“

Und so ward Heim Doctor.

A. W. Müller.

Ein Volkslehrer-Seminar in Hamburg. In der Entwicklung der modernen gesellschaftlichen Gliederung ist es ein sehr beachtenswerther Gedanke: die Zwecke des Staates, der Kirche und der Erziehung, ganz von einander zu trennen und in gesonderten Gemeinschaften zu verkörpern. Dieser Gedanke ist es, welcher hier und da die Forderung stellt: die Schule von den Einflüssen des Staats und der Kirche loszulösen und ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Dies ist nothwendig, wenn die hohe Aufgabe der Schule, die ihr anvertrauten Zöglinge zu sittlich freien Menschen heranzubilden, erreicht werden soll.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_223.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2020)