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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


heraus – sie waren Alle noch am Leben und frisch und gesund. Durch meine Vermittelung nämlich war es ihm möglich geworden, einen offenen Brief an seine Frau nach Metz zu senden, Marschall Bazaine ließ von Zeit zu Zeit Privatbriefe in offenen Couverts an das preußische Obercommando gelangen mit der Bitte, dieselben an ihre Adresse befördern zu lassen; es waren offene Correspondenzen in Privat- und Familienangelegenheiten, aber nur solche, die an Adressen in den von uns bereits besetzten französischen Landestheilen lauteten; ebenso ging dann auch die Antwort durch die preußische Militärbehörde nach Metz zurück, und auf diesem Wege war es mir gelungen, für den Geängstigten Nachricht und Antwort zu befördern. Nun gewann sein vergrämtes Gesicht wieder einen heitern Ausdruck, nun hob sich seine Seele wieder, nun pfiff er wieder französische Chansonnettes, trotzdem ihm unsere Soldaten noch manchen Kummer machten. Er hatte außer zwei Officierquartieren noch weitere Räume des Hauses mit zwölf bis zwanzig Mann belegt und jeden Tag kam er mit einer andern Klage. Bald hatten die Soldaten ihm so und so viel Eier aus dem Hühnernest genommen – er wußte die Zahl ganz genau, so und so viel Hühner hatten gegackert, also waren so viel Eier da, und nun keines mehr –; bald waren ihm seine gebackenen Pflaumen, seine „Quetsch“ auf unerklärliche Weise, wahrscheinlich in die kriegerischen Magen verschwunden, und an den Kochherd, um sein Hammelfleisch mit Champignons zu braten, ließen sie ihn nun schon gar nicht mehr hinan; sie belagerten denselben ausschließlich, denn sie kochten und äßen den ganzen Tag; dabei fiele es ihnen nicht einmal ein, auch nur ein Gefäß zu reinigen. Wenn seine Frau nun käme und den Zustand ihrer Töpfe und Casserolen sähe! Und wenn das nicht bald geschehe, dann gehe die ganze Wirthschaft zum Teufel. „O Monsieur, ist denn Metz noch nicht bald über?“

Endlich am Morgen des 27. October konnte ich ihm sagen:

„Monsieur Girardin, Ihre heldenmüthige Ausdauer soll belohnt werden. Bestellen Sie zu Sonntag Morgen einen Wagen, fahren Sie nach Metz, umarmen und holen Sie Ihre Frau und Kinder – Metz capitulirt.“

„Wirklich? Endlich – endlich!“ rief er und warf vor Freude seine Mütze durch die ganze Länge des Zimmers. „Marschall Bazaine ist doch ein großer General. Ich sehe, daß ich dem Manne manchmal Unrecht gethan habe.“

Am Tage nach der Uebergabe war ich das erste Mal in Metz und kehrte gegen Abend nach Corny zurück. Auf dem Wege wurde ich plötzlich angerufen. Ich ließ den Wagen halten, um zu hören, woher die Stimme komme. Ein einspänniges offenes Wägelchen setzte sich in schärferen Trab, um zu mir heranzukommen, und wen erkenne ich? Monsieur Girardin, den ich in diesem Costüme nimmer erkannt hätte! Sonst hatte ich ihn nur in der Blouse gesehen, und heute trug er zur Feier des Tages einen blauen rothgefütterten verschnürten Burnus; auf seinem Schooße saß der älteste Junge von vier Jahren, neben ihm Madame mit dem jüngsten Kinde, und hinter dem Sitze waren Kinderbetten, eine Wiege, ein ganzer kleiner Haushalt aufgepackt. Ich habe lange kein glücklicheres Menschenantlitz gesehen, Vater Girardin fand gar keine Worte, er wies immer nur auf seine Frau und seine Kinder.

Madame hatte eine eigenthümliche Praxis, um sich mit ihrem Französisch den Deutschen verständlich zu machen. Sie vermuthete wahrscheinlich den Sitz des Verständnisses der Sprache im Ohr anstatt im Geiste und schrie Einen an, als ob man taub wäre. Im Uebrigen schien sie eine vernünftige Frau zu sein, sie entsetzte sich gar nicht so sehr über den allerdings erschreckenden Zustand ihrer Wirthschaft, sie machte sich frisch und flink daran, Alles wieder in Stand zu setzen. Als ich am Morgen des zweiten November von dem Ehepaare Abschied nahm, um weiter südwärts zu ziehen, konnte ich den Eindruck einer geordneten und glücklichen Häuslichkeit mit mir nehmen. Die Küche, die zugleich Wohnstube, war gescheuert, getüncht, die Pfannen und Casserolen glänzten wie neu versilbert, in die Bettladen waren die versteckt gewesenen Matratzen wiedergekehrt, ebenso ließ eine hübsche Pendüle, die ich nie gesehen und die nach Girardin’s Geständniß unterdeß im Backofen studirt hatte, ihr trauliches Ticktack ertönen, am Kamin war Kinderwäsche aufgehangen und auf das im Korbe schlafende Jüngste deutend sagte mir mein Wirth:

„O Monsieur, nun sind alle Leiden des Krieges wieder vergessen, nun sind selbst die Casserolen wieder gescheuert, nun wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen, daß Sie ebenso glücklich werden möchten, als ich es jetzt bin, wo ich Frau und Kind aus Metz heraus habe. Adieu! Bon voyage!

G. Horn.




Silhouetten aus der guten alten Zeit.
Nr. 2. Die Bauern in der Buttermilch.


Ueberfluß bringt Uebermuth. Das haben die freien köllmischen Bauern von Lichtenau im großen Marienburger Werder bewiesen, als sie im Jahre 1380 ihren Landesherrn, den ehrwürdigen Hochmeister des deutschen Ordens, Winrich von Kniprode, bei sich zu Gaste sahen. Damals galt es, dem fürstlichen Herrn zu zeigen, welchen Segen sein weises Walten über das Land verbreitet hatte, und deshalb standen anstatt der Stühle zwölf bis zum Rande mit Gold gefüllte Tonnen um die reich besetzte Tafel. Es lag aber in dieser Ovation nicht allein ein dankendes Anerkenntnis für den wohlwollenden Landesherrn und seine edlen Vorgänger, welche es verschmäht hatten, aus dem heiligen römischen Reiche feudale Zustände nach dem Ordenslande Preußen herüberzunehmen, und welche von der belebenden Kraft der Freiheit für Bürger und Bauer durchdrungen waren, sondern auch ein ganz heilloser Bauernstolz. Dieser wurde genährt durch das Vorgehen der Hochmeister selbst; dieselben gingen bei der Colonisation des Weichseldeltas von Grundsätzen aus, welche uns mit Erstaunen erfüllen, wenn wir uns die Zustände in den damaligen Culturstaaten vergegenwärtigen. War es doch zu jener Zeit in Deutschland, England und Frankreich gesetzlich unstatthaft, daß freier Grundbesitz in bürgerliche und bäuerliche Hände kommen konnte, denn nur der Edelmann, der Ritter war der eigentliche Grundherr, der dominus eminens, dagegen war der Bauer nur Arbeiter, welcher von der Gnade des Gutsherrn abhing und ein höchst gedrücktes Dasein führte. Ein kurzsichtiger Fürst hätte dieselben ihm scheinbar günstigen Zustände in den neu erworbenen, ja theilweise sogar neu entstandenen Provinzen eingeführt, nicht aber so die Hochmeister des deutschen Ordens, denn sie fühlten ganz richtig, das ein kräftiger Volksstamm nur auf dem Boden der Freiheit gedeiht, und deshalb gaben sie den bäuerlichen Ansiedlern auch keine anderen Oberherren, als sich selbst, deshalb erließen sie den Anfängern die Grundsteuern (Zins) für fünf Jahre gänzlich und beanspruchten auch außerdem nur einige geringe Naturalleistungen. Dazu verliehen sie die eigene sogenannte kleine Gerichtsbarkeit nach freiem Kulmischem Recht und schufen überhaupt einen nach allen Richtungen hin freien und unabhängigen Bauernstand, welcher das neue Land bald in einen niemals geahnten Culturzustand versetzte. Dabei fühlten sich Fürst und Volk wohl, und die Dankbarkeit und Achtung war eine gegenseitige und aufrichtige während einer langen Zeit.

Leider hält jedoch die geistige Veredelung des Volkes nicht immer Schritt mit dem zunehmenden Wohlstande, und das traf auch bei den freien Köllmern von Lichtenau zu und verführte sie zu allerhand Narrenstreichen, als deren bleibendes Denkmal der in unserer Illustration abgebildete „Buttermilchsthurm“ im Volke angesehen wird. Dieser Thurm ist augenscheinlich (nach seiner Stellung zur Veste Marienburg zu urteilen) als ein detachirtes Fort oder als Theil eines solchen anzusehen. Er steht da als ein weit nach Norden bis an das Nogatufer vorgeschobener Posten, jedenfalls in früherer Zeit als ein Hauptwartthurm für die Besatzung der Burg, denn man übersieht von seinen Zinnen die ganze Gegend bis nach Danzig und Elbing, und der schweifende Blick wird nur gehemmt durch die hellglänzenden, sandigen Dünen der Ostsee. Diesen Thurm sollen die Freiköllmer von Lichtenau zur Strafe haben bauen müssen, und zwar soll sich dies so zugetragen haben:

Die Lichtenauer hatten den guten Landesherrn schon oft durch ihre Tollheiten geärgert. So hatten sie eines Nachts einen Bettelmönch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_415.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)