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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

will, daß ich meinen Beruf nicht erkenne darin, daß ich mich vor der Welt scheue, denn mein Vater hat mir wahr geschildert … und daß ich meinen Weg klar vor mir sehe.“

„Bah, bah! Morgen kommen Sie zu uns, und dann sehen Sie fleißig zum Fenster hinaus. Meine Frau wird Ihnen so viele Stadtneuigkeiten erzählen, daß Sie neugierig werden sollen, die Leute alle selber kennen zu lernen. Sie werden sich an Besuche gewöhnen, und Sie … Sieh da, da bekommen Sie auch einen Besuch! Sehen Sie, ein Wagen biegt in den Park ein … ein Herrschaftswagen – wahrhaftig, es ist die blaue Livrée der Stasingen! Und wer sitzt in dem Wagen? Wahrhaftig, die Gräfin selber!“

Marie Kärner antwortete nichts auf die Rede des Greises; er hatte sich zwischen die Acazienblätter hinausgeneigt, um den Wagen ankommen zu sehen. Jetzt schaute er zurück, um die Verwunderung des jungen Mädchens zu theilen. Aber er blieb erstaunt und verstummt. Er sah, daß Marie Kärner athemlos an der Fensterwand lehnte, das sonst so lilienblasse Gesicht von dunkler Röthe überzogen.

„Ah, was! Was ist Ihnen, Marie?“ rief der bestürzte alte Mann.

Da erwachte das Mädchen gleichsam. Sie lächelte. Und während des Lächelns wurde ihr Gesicht langsam wieder blaß … fast weiß. „Nichts!“ sagte sie. „Ich bin nur so erstaunt. Die Frau Gräfin ist es! Richtig, und sie ist allein.“ Sie eilte an die Thür, öffnete sie eilig und rief hinaus: „Hanne! Hanne! Die Frau Gräfin kommt! Oeffne das Besuchzimmer oben! Und Sie, Herr Volkner, Sie helfen ihr wohl aus dem Wagen und führen sie hinauf? …“

Der alte Bürgermeister Volkner empfing die Frau Gräfin am Wagenschlage, wo er den einen blaulivrirten Bedienten bei Seite schob.

Die Gräfin begrüßte ihn freundlich und streckte dann freundlich die beiden kleinen untadelhaft behandschuhten Hände Marie entgegen, welche auf der obersten Thorstufe erschien, um ihren Gast zu empfangen.

Gräfin Adalie Stasingen war eine ältliche Dame, welche noch Spuren einer jener unvergleichlichen Adelsschönheiten zeigte, welche für das bürgerliche Auge zu scharf pointirt und nur für Kenner wahrhaft ideal sind. Ihr Gesicht hatte noch den ganzen edlen Schnitt und das einnehmende Lächeln ihrer Jugend bewahrt, aber keine Nuance von Farbe. Es war von jener Wachsblässe, welche die lichteste Schattirung der Bronzefarbe ist. Ihre schwarzen Haarwellen waren weich um das Gesicht gelegt. Sie trug einen lichten grauen Seidenanzug und einen Hut, der eigentlich nur ein Schleier war.

„Ich komme, um Ihnen mein Beileid zu bezeigen und Sie in Ihrer Einsamkeit zu fragen, liebstes Fräulein, ob ich Ihnen irgendwo von Nutzen sein kann.“ Die Gräfin sagte diese Worte mit einem Herzenstone und küßte die Waise.

Marie Kärner ertheilte die gewöhnliche Antwort und lud die Gräfin ein, sich in den Besuchssalon hinauf zu bemühen.

„Hinauf? Besuchssalon? Aber ich habe Sie eben vom Wagenfenster aus hier unten im Wohnzimmer gesehen! Sans gêne, ich bitte, führen Sie mich zu sich und nicht in einen Salon.“ Und die Gräfin war schon durch die offenstehende Thür in die Wohnstube getreten. Marie Kärner machte noch Einwendungen über die Unordnung und so weiter, aber wie der gute alte Bürgermeister nach ihnen eintrat, saß die Gräfin schon auf dem alten breiten Sopha.

Herr Volkner war ganz erstaunt. Gräfin Adalie Stasingen war bekannt als die stolzeste Frau des ganzen Landes, so wie ihre Familie für die exclusivste Familie des deutschen Adels überhaupt bekannt war. Und jetzt kam die Gräfin selber, um sich über das Befinden seiner Mündel zu erkundigen, und sie war so freundlich, so herzlich und so ganz zu Hause wie – „wie eine Tante!“ dachte Herr Volkner.

„Wir wollen nicht von traurigen Sachen sprechen, mein armes liebes Fräulein,“ sagte die alte Gräfin und zog Marie neben sich auf den Sitz nieder, „sondern von heiteren, von Ihrer Zukunft. Sie wollen fort von hier, habe ich gehört. Wohin? Haben Sie Verwandte? Wollen Sie zu mir, bis Sie sich einen Wohnort gewählt haben? Sehen Sie, liebes Fräulein, ich habe mich über Sie gekümmert seit – seit dem Unglücksfalle. Unsere beiden Häuser haben nie Verkehr miteinander gehabt – die Verhältnisse, das Naturell, verschiedene Anschauungsweisen und tausend schreckliche Kleinigkeiten brachten das mit sich. Aber es hat in meiner Jugend eine Zeit gegeben, wo unsere beiden Familien Annäherungspunkte hatten. Und so kurz diese Zeiten und so schwach diese Anknüpfungspunkte auch waren – ich bin noch nicht alt genug, um keine Erinnerungen mehr bewahrt zu haben, und bin noch nicht trockenherzig genug, um mich nicht für Sie zu interessiren, mein liebes schönes Fräulein. Sie dürfen nicht einsam bleiben. Wo wollen Sie hin?“

„Ich werde in dem Hause meines Vormundes hier, des guten Herrn Bürgermeisters, eine Heimath finden, bis ich alle meine Angelegenheiten geordnet sehe und den Beruf antreten kann, den ich mir erwählt habe: den Beruf einer Lehrerin.“

Die Gräfin schaute erstaunt auf mit ihrem schönen Aristokratengesicht. „O!“ rief sie mit ihrer tönenden Altstimme. Dann schaute sie auf Herrn Volkner hinüber. „Lehrerin! Eingeschlossen sein zwischen sechs weißen Schulzimmern, einem langweiligen Garten, wo kein Gras niedergetreten werden darf, und zur Erholung sich halb todt ärgern müssen mit fünfzig eingebildeten, altklugen, boshaften, uniform ausstaffirten Mädchen! Das Alles wollen Sie, nach Ihrer traurigen Jugend, mit Ihrer Schönheit … o, widersprechen Sie nicht – eine alte Frau sagt Ihnen keine Schmeichelei … mit Ihrem Vermögen – denn Sie können nicht arm sein … das wäre ja eine Sünde …“

„Eine Sünde, jawohl!“ eiferte Herr Volkner erhitzt.

(Schluß folgt.)




Großvater und Enkel.

„Davor gelegen in Schnee und Eis,
Geschanzt und geschlagen in Blut und Schweiß,
Die besten Cam’raden zu Tode getroffen –
Und endlich gesiegt! Paris ist offen!
Ich bin der Sieger – und darf nicht hinein!
Da schlage das Donnerwetter drein!“

– Sei gut, mein Junge! Zwar – ich bin alt,
Und dennoch hat wild sich die Faust mir geballt,
Und Ihr seid noch Kerle von Feuerblut
Und Ihr habt Recht, – aber, Junge, sei gut!
Bedenk’: ich zog in Paris mit ein –
Was brachten denn wir heim über den Rhein?

Was errang nach so viel Fluch und Schand’
Denn unser Triumph dem Vaterland?
Du glaubst es mir, weil ich’s Dir sage:
Sie belohnten uns mit dem – Bundestage!
Den Franzosen gaben sie unsern Rhein!
Da, Junge, schlage der Donner drein!

Spottleicht verschmerzt sich der Verdruß
Ob dem alten Raubnest am Seinefluß:
Ihr bringt uns Straßburg und Metz und zugleich
Unsers Lebens Sehnsucht – Kaiser und Reich!
Ein einig Deutschland und obendarein
Ganz frei, ganz deutsch unsern alten Rhein!

Nur das Eine betrübt mich: das alte Lied
Von der Ehre geborenem Unterschied!
Ha, für solche Opfer nach solchen Zielen
Noch des Standeshochmuths empörendes Spielen? –
Muß vor aller Welt durch das Kreuz nicht gemein
Soldaten- und Bürgerehre sein?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_444.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)