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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

das Fundstück aus dem Hünenbett, so wog er jetzt das kleine Scheusal von einem Schuh auf der Hand: diesmal jedoch mit jener schwerfälligen Armbewegung, die etwas Gewichtiges ironisirt.

„Ah, die Damen der Haide belieben mit Nachdruck aufzutreten!“ sagte er zu dem Herrn im braunen Hute. „Charlotte müßte dieses feenleichte Prachtstückchen sehen, Onkel! … Ich hätte gute Lust, es ihr mitzubringen –“

„Keine Possen, Dagobert!" unterbrach ihn der Angeredete streng; Heinz aber schrie fast auf.

„Ei beileibe nicht, Herr! … O je – was würde Ilse sagen! – ganz neue Schuhe!“

„Brr – diese Ilse scheint mir der Drache zu sein, der das barfüßige Prinzeßchen bewacht! – – voilà!“ lachte der junge Mann und ließ den Schuh auf den Boden fallen. Darauf schlug er die Hände gegeneinander, um die etwaigen Staubreste von seinen Handschuhen zu entfernen.

Sie grüßten Heinz und schritten weiter, während mein alter Freund die Unglücksschuhe eifrig in seine weiten Rocktaschen packte. Er ließ ihnen auch die Strümpfe folgen, die er kopfschüttelnd eben noch auf einem Zweige entdeckte; dann trabte er eiligst nach dem Dierkhofe.

Ich verharrte noch eine kurze Zeit in meinem Versteck und horchte auf die Schritte der Fremden, die sich bald auf dem weichen Rasen verloren. Ich war sehr aufgeregt; damals wußte ich die Empfindung nicht zu bezeichnen, die mir den Hals zuschnürte und die mich mit verhaltenen Thränen ringen ließ, und der ich mich nichtsdestoweniger mit einer Art von leidenschaftlicher Genugthuung erst recht hingab – es war Groll, rachsüchtiger Groll. … „Wie einfältig!“ hatte ich bei Heinzens diplomatischer Antwort zwischen den Zähnen gemurmelt – jetzt konnte er getrost sagen, daß Doctor von Sassen mein Vater sei; aber nein, er hatte gesprochen, wie der weise Salomo, und ich war ihm gram, ich war bitterböse auf ihn.

Ich verließ das Gebüsch. Von dem Dierkhof stiegen keine Rauchwolken mehr auf; Ilse hatte längst die Kartoffeln in die Schüssel geschüttet; auf einem Teller lagen sicher die schönsten, abgeschält und goldgelb, und daneben stand ein Becher voll süßer Milch – Ilse verzog mich, wenn auch mit dem allerstrengsten Gesicht … Und jetzt wartete sie jedenfalls auf mich; aber heim ging ich noch nicht; ich mußte erst sehen, in welchem Zustande die Fremden den armen zerstörten Hügel zurückgelassen hatten.

Der Hügel sah besser aus, als ich erwartet hatte. Der Block war wieder in seine alte Stelle eingefügt worden, auch die zertrümmerte Erdschicht hatte man darüber hingeworfen, und die Scherben der Urne waren verschwunden. Nur das herausgerissene Gesträuch lag verschmachtend umher; über die schmale Sandblöße am Fuße des Hügels breitete sich noch ein bleicher Hauch der verstreuten Menschenasche, und unter einem Ginsterzweige halb versteckt lag ein feines, schwarzgebranntes Knöchelchen, für immer getrennt von den anderen, die man jedenfalls dem Grabe zurückgegeben hatte.

Ich nahm es behutsam auf – der junge Herr hatte Recht, es waren keine Riesen gewesen, die der Hügel deckte. Das zarte Gebild in meiner Hand mochte ein Fingerglied sein, einst vielleicht von rosigem Fleisch umhüllt, schlank gebaut, von so weißer, atlasglatter Haut bedeckt, wie die Hand, die ich heute gesehen, geliebt und bewundert und von köstlichem Metall schmeichelnd umschlossen, und an einer einzigen seiner Bewegungen hatte vielleicht das Wohl und Wehe vieler anderen Menschenkinder gehangen. Ich stieg auf den Hügel und grub es unter der Föhre ein. Der gute, alte Baum reckte beschirmend seine üppigen Zweige darüber hin – wer wußte, ob er heute nicht selbst den Todesstreich empfangen hatte!

Den Arm um seinen Stamm legend, sah ich da hinüber, wo der kleine Fluß sich nach dem Walde zu krümmte. … Wie seltsam war es, daß sich Menschen dort bewegten! Menschen auf der feierlich stillen, eintönig braunen Fläche, über der höchstens der Raubvogel in schwindelnder Höhe seine Kreise zog, um plötzlich lautlos wieder zu verschwinden – mir war, als müßten die Dahinschreitenden Fußstapfen für immer hinterlassen.

Sie eilten in die Welt zurück – in die Welt! … Ich war ja auch schon dort gewesen. Für mich hatte sie freilich nur in einer großen dunklen Hinterstube und einem feuchten Gärtchen zwischen vier himmelhohen Häusern bestanden, und aus dem Menschengewimmel, das man auch „die Welt“ nennt, waren mir nur wenige Gesichter nahe getreten. In jener Hinterstube hatte ich meine drei ersten Lebensjahre verbracht. … Graublonde, dürftige Löckchen schwebten um das eine Gesicht, das am festesten in meiner Erinnerung haftete – ich hätte den grünlich blassen Schimmer der schmachtenden Augen, das plumpe Stumpfnäschen und den grauen, leblosen Teint noch malen können. Das war Fräulein Streit, meine Erzieherin gewesen. Ein anderes Gesicht flog nur wie ein bleicher Schein an dem dunklen Hintergrund dieser frühesten Erinnerungen auf – ich hatte es zu selten gesehen, aber wenn ich später Seide knistern hörte, da tauchte es wie ein Schemen ohne eigentliche Umrisse vor mir empor, und ich hörte eine geärgerte Stimme sagen „Kind, du machst mich nervös!“ Zürnen und nervös sein war dadurch für mich identisch geworden. Diese seidenrauschende Gestalt, die nur durch die Hinterstube huschte und höchstens einmal eine weiche, heiße Hand auf meinen Scheitel legte, nannte Fräulein Streit gnädige Frau, und ich mußte Mama sagen.

Dann wachte ich einmal auf – nicht mehr in der dunklen Hinterstube. Ich saß auf dem Arme eines großen Mannes, dem gelbe Haare an den Schläfen standen und der mich mit einem „Hä, hä, hä – Ausgeschlafen?“ anlachte. Neben ihm ging Fräulein Streit im schwarzen Hut und Schleier; die dicken Thränen liefen ihr über das Gesicht, und ich sah, wie sie leise die Hände rang. … Ganz nahe vor uns lag das Haus mit dem Storchennest und den vier Eichen und als ich in das erhitzte Gesicht des Mannes sah und mich erschrocken zurückbäumte, um aus voller Kehle zu schreien, da rief er: „Kommt, Putchen!“ und aus dem Hausthor rannte eine Schaar bunter Hühner auf ihn zu.

Dort stand auch die Frau mit dem rothen Gesicht; sie streckte Fräulein Streit die Hand entgegen und küßte mich weinend, worüber ich heftig erschrak; aber das war schnell wieder vergessen. Im Hofraum tollte ein Kalb herum, es sprang plump auf alle vier Füße und blieb lächerlich breitspurig und blökend vor dem Manne stehen. Droben auf dem Dache klapperte der Storch, und Ilse – die Ilse mit den schwarzen Augen – hielt mir ein kleines Thier hin, auf dessen seidenweiches Fell ich zaghaft meine Hand legte – es war ein miauendes junges Kätzchen. … und überall lag Sonne, goldener, glänzender Sonnenschein, und die Blätter an den Bäumen plapperten und rieselten ohne Ende im würzigen Haidewind. Ich jubelte und kreischte auf vor Lust, während Fräulein Streit unter herzbrechendem Schluchzen über die Schwelle des Hauses schwankte.

So hielt ich auf Heinzens Arm meinen Einzug auf dem Dierkhof, und von diesem Augenblicke an begann erst mein Leben – ich war über Nacht ein glückliches Kind geworden, während die Menschen mich beweinten. … Hussah, ging es auf Heinzens Rücken Tag für Tag im lustigen Trabe über die Haide hin! Und da stand auf dem allereinsamsten Flecke eine kleine Lehmhütte mit einem niedrigen Strohdach; der große Heinz mußte sich tief bücken, wenn er unter die Thür trat. Aber drinnen war es wohnlich. Tisch und Stuhl blinkten schneeweiß, und hinter den zwei großen Schrankthüren an der tiefen Wand lagen federnstrotzende Betten im saubern buntgewürfelten Ueberzug. Heinz und Ilse waren Besenbinderkinder gewesen. Der alte Besenbinder hatte mit seinen beiden eigenen Händen die Hütte gebaut, die zwei Kinder waren darin geboren, und an einem anderen Orte wollte Heinz auch nicht sterben. Im Juli fuhr er das Bienenvolk der umliegenden Höfe in die Haide und behielt sie unter Aufsicht, sonst arbeitete er wöchentlich einige Tage als Knecht auf dem Dierkhofe.

In der Lehmhütte war ich so schnell heimisch geworden wie im Hause meiner Großmutter. Ich half Heinz seine Buchweizengrütze essen, und war dabei, wenn er Streuhaide für den Dierkhof hieb und einfuhr. Er hob mich hoch über seinen Kopf nach den alten, pensionirten Bienenkörben, die an den Balken der Tenne hingen und von dem Hühnervolk als Nester benutzt wurden, und ich reichte unter Jubeln und Jauchzen die schönen glatten weißen Eier der neben ihm stehenden Ilse hinab.

Fräulein Streit saß währenddem in der großen Wohnstube und stickte den ganzen Tag und weinte dazu. Damals mag wohl die alte traute Stube recht lächerlich ausgesehen haben; denn ihre Wände waren nur weiß gestrichen, hinter dem Ofen lief die braune, abgenutzte Holzbank hin und die Tische standen grob und ungeschlacht umher. Aber Fräulein Streit zu Ehren hatte die Großmutter ein gepolstertes Sopha aus der Stadt kommen lassen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_531.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)