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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Gnade in Kerkerstrafen umgewandelt; doch vor 1848 waren Hinrichtungen sehr häufig. „Es ist einer ausgesetzt!“ hieß es damals sehr oft; das heißt, ein zum Tod Verurtheilter genoß die erwähnte Galgenfrist von drei Tagen. Er saß in irgend einem geräumigen Zimmer des Comitats- oder Stadthauses, von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonnet bewacht, an Händen und Füßen mit Eisenketten gefesselt, und festtäglich geputzt, vor einem Tische, auf welchem es an Wein und Backwerk nicht fehlte. Die Besucher – Jedermann hatte Zutritt – pflegten Kupfermünze auf den Tisch zu legen, damit der „Ausgesetzte“ sich in den letzten Tagen seines Lebens Labemittel anschaffen könne, und Groß und Klein staunte mitleidsvoll und verblüfft den Mann an, der heute noch gesund, zuweilen sogar auch lustig war, und dennoch übermorgen oder gar schon morgen todt sein sollte! – Scenen dieser Art kamen häufig vor, und prägten sich der Volksphantasie so tief ein, daß sie in Volksliedern besungen wurden, sowie in Volksdramen und in Romanen den Gegenstand wirksamer Scenen und Capitel bildeten. Und wie die Kunst gewöhnlich die von der Literatur geebneten Wege wandelt, so schuf auch der ungarische Maler Munkácsy nach der literarischen Durcharbeitung des erwähnten nationalen Stoffes sein berühmtes Gemäldes „Die letzten Stunden eines Verurtheilten“, das die Leser der Gartenlaube in einer trefflichen Wiedergabe bereits kennen gelernt haben.

Besondere Erwähnung verdient das Standrecht. – Zuweilen treten in einzelnen Gegenden die Verbrechen des Raubes oder der Brandlegung epidemisch auf, und in solchen Fällen verleiht die Regierung (jetzt der Minister des Innern nach Anhörung des Justizministers) den betreffenden Municipalbehörden auf eine bestimmte Zeit das Standrecht gegen Räuber, Raubmörder, gegen die Mitschuldigen, Theilnehmer an der Schuld, und Hehler. Die Standgerichte sind in ähnlicher Weise zusammengesetzt wie die Criminalgerichte, und der Angeklagte erhält einen Vertheidiger. Erklärt das Standgericht sich nicht als competent, oder kann die Schuld binnen acht Tagen nicht festgestellt werden, so wird die Angelegenheit dem ordentlichen Gericht zugewiesen. Ist der Delinquent standrechtlich zum Tode verurtheilt, so werden ihm drei Stunden Zeit gelassen, sich zum Tode vorzubereiten.

Schließlich muß noch einer auffallenden Erscheinung gedacht werden, die bestimmt ist, in der Geschichte der ungarischen Criminaljustiz einen der denkwürdigsten Abschnitte zu bilden. Die Sicherheit der Person und des Eigenthums wurde vor einigen Jahren in einem beträchtlichen Theile Ungarns in unerhörter Weise gestört. Im Bácser Comitat verbreitete der Räuber Max im Macsvánßky solchen Schrecken, daß die Militärmannschaften mehrerer Städte gegen ihn ausgeschickt wurden, und auch die konnten seiner nicht habhaft werden; in einem Orte desselben Comitats, in Pivnicza, herrschte vollständige Gesetzlosigkeit, und durchreisende Passagiere wurden selbst am hellen Tage ausgeraubt. Der Handelsminister fand sich im Jahre 1868 bewogen, die Geldpostsendungen auf gewissen Strecken einzustellen, weil mehrmals Postwagen geplündert und sogar Eisenbahnzüge von Räubern zum Stehen gebracht worden waren, welche es versuchten, die Eisenbahnpost und die Passagiere zu berauben.

Diese und unzählige andere mit unglaublicher Frechheit verübte Verbrechen, veranlaßten die Regierung, den Chef des Polizeidepartements des Ministeriums des Innern, Graf Gedeon Ráday den Jüngeren mit außerordentlicher Vollmacht als königlichen Commissär in die bedrohte Gegend zu entsenden. Er wählte aus verschiedenen Zweckmäßigkeitsgründen die Stadt Szegedin zu seinem Sitz, und seit den drei Jahren seiner Wirksamkeit hat er nicht allein in dem großen, über mehrere Comitate sich erstreckenden Rayon seiner Wirksamkeit die Sicherheit wieder vollkommen hergestellt, sondern auch vor zwanzig und mehr Jahren begangene Verbrechen entdeckt, über welche längst das Gras der Vergessenheit gewachsen war. In Folge dessen sitzen jetzt in den Szegediner Casematten vierzehn- bis sechszehnhundert Individuen gefangen, die wegen des Zusammenhangs einer zahllosen Menge noch zu untersuchender Verbrechen noch nicht abgeurtheilt werden konnten. Damit diese Häftlinge weder untereinander, noch mit anderen Personen sich verständigen können, müssen sie, so oft sie außerhalb ihrer Gefängnisse erscheinen, wenn sie spazieren geführt oder zum Verhör abgeholt werden, Masken tragen.

Der Beifall, den die erfolgreiche Wirksamkeit des Grafen Ráday fand, blieb indeß nicht ohne Schatten; – und als im Abgeordnetenhause in den letzten Tagen des vorigen Monats über einen Nachtragscredit für das königliche Commissariat in Szegedin verhandelt wurde, brachten Gegner der Vorlage vor, daß Graf Ráday willkürlich vorgehe und in einzelnen Untersuchungsfällen unmenschlich verfahre. Es wurde davon gesprochen, daß man die Häftlinge der Szegediner Festung je nach Umständen hungern, Durst leiden, sich berauschen oder sie nicht schlafen lasse, um ihnen auf die eine oder die andere Art Geständnisse abzunöthigen; ja man sprach sogar auch von einem Folter-Instrument, das „Ráday-Wiege“ genannt wird, über welches jedoch Niemand näheren Aufschluß zu geben wußte. Kurz, es waren Gerüchte im Schwange, die beinahe nicht minder staunenswerth sind, als der riesige Erfolg, mit welchem Graf Ráday einen großen Theil des Landes von weitverzweigten Verbrecherbanden befreit hat, und um so gewisser auf die Dauer befreit haben wird, als er den Hehlern bis in Kreise nachspürt, wo sie bisher durch Vermögen, mitunter sogar durch gesellschaftliche Stellung gedeckt waren.

Nehmen wir nun zu dieser wahren Augias-Stallreinigung die oben erwähnten Schritte zum Bessern, so dürfen wir hoffen, daß von der Romantik des ungeregelten ungarischen Criminalwesens bald nur die Erinnerung übrig sein wird, und Reminiscenzen, wie die heute von uns mitgetheilten, eben nur als Curiosa werden Platz finden können.

Adolf Dux.




Blätter und Blüthen.

Ein Besuch beim Componisten der „Wacht am Rhein“. Wie aus den Tagesblättern bekannt, weilt gegenwärtig in dem lieblichen Elgersburg Wilhelm, der Componist der „Wacht am Rhein“, um von dem über ihn gekommenen schweren Leiden unter der sorgsamen Pflege des Dirigenten der dortigen Curanstalten, Dr. Schultz, Heilung zu suchen.

Ich mußte ihn aufsuchen, den Componisten des Liedes, das der nationalen Begeisterung dieser Tage Flügel geliehen, des ersten wahrhaft kernigen Volksliedes seit Jahrzehnten, ganz angethan, in den kommenden Geschlechtern das Bewußtsein brüderlicher Zusammengehörigkeit wach zu erhalten, sie fort und fort zu erinnern an die Thaten ihrer Väter, durch welche die lange genährte Sehnsucht der edelsten Nation ihre Erfüllung fand.

Die Dienerin öffnete mir den im Erdgeschosse der schmucken Villa des Dr. Schultz von lachendem Grün umrankten Salon. Bei meinem Eintritt erhob sich langsam vom Divan ein älterer Herr von freundlichen und doch schmerzlichen Gesichtszügen, mit einem Seufzer auf seinen Stab sich stützend, indem er mit klagender Stimme einige gebrochene Worte der Entschuldigung für seine, wie er glaubte, nicht gesellschaftliche Erscheinung mir entgegenbrachte.

Auf meine direct – wir waren allein – an ihn gerichtete Frage, ob er der Musikdirector Wilhelm sei, erwiderte er wehmüthig: „Dieser arme Mann bin ich.“ Mich an seine Seite ladend, reichte er mir mit thüringischer Treuherzigkeit die Hand und hielt die meinige bis zu meinem baldigen Weggange fest, nachdem er in mir einen Verehrer und Dilettanten seiner Kunst erkannt. Von seinen den unverkennbaren Stempel deutscher Tüchtigkeit an sich tragenden, vielfach von Thränen begleiteten Gesprächen werden mir die mit Innigkeit gesprochenen Worte, deren Zusammenhang sich von selbst erklärt, unvergeßlich bleiben: „Die schönste Frucht ist die Einheit.“ Hier wurden die matten Augen heller und die Wehmuth wich einer erkennbaren freudigen Erregtheit. Er wollte noch mehr zu sprechen sich überwinden, mir aber war es ein Gebot schuldiger Rücksicht, mich baldigst zu verabschieden, und ich durfte nur noch dem Kranken den traurigen Dienst erweisen, als er sich zu nochmaligem Händedrucke des Abschiedes erhob, ihm den entfallenen, leider unentbehrlichen Stab aufzunehmen.

Ein tragisches Geschick darf es wohl genannt werden, daß gerade in den Tagen, da das zweite Reich die Morgensonne seiner neuen Herrlichkeit über sich aufgehen sah, dieser deutsche Mann in Fesseln geschlagen ward durch die verstärkte Wiederkehr eines Schlaganfalles, der ihm die linkseitige Körperhälfte lähmte. Wilhelm’s Zustand ist indessen nicht so hoffnungslos, als er selbst sich ihn vorstellt. Seit jenem Besuche sind kaum zwei Wochen verflossen, und während ich dies schreibe, darf er selbstständig einen kleinen Spaziergang in Elgersburgs paradiesisch schöne Umgebungen auf seinen Stützen unternehmen. Auf seinem sonst so heitern harmlosen Gemüthe lastet freilich schwer der Jammer, daß es ihm nicht vergönnt ist, an der Sonne, die er nur durch trübe Wolken schimmern sah, sich mit den Millionen seiner Stammesgenossen freudig zu erwärmen; erklärlich daher, daß Wehmuth jetzt den Grundzug seiner Seelenstimmung bildet. Selbst die überraschende frohe Botschaft des Fürsten Reichskanzlers, die dem fünfundfünfzigjährigen nationalen Componisten die verdiente Sorgenfreiheit für seinen Lebensabend verbürgt, vermochte anfänglich nicht, ihn aufzurichten; er ließ das Dotationsrescript vierundzwanzig Stunden bei sich liegen, bevor er seinem Arzte und Pfleger oder sonst Jemandem davon Mittheilung machte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_543.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)