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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 34.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Die Großmutter sah mich so erstaunt an, als habe sie bis dahin gemeint, das kleine Wesen könne nur singen und nicht sprechen, am allerwenigsten aber sie selbst anreden. Ilse zog sich hinter den Vorhang zurück und winkte mir angstvoll, zu schweigen; sie mochte durch mein unerwartetes Hervortreten einen Anlaß zu neuer Geistesstörung bei der Kranken befürchten. Aber meine Großmutter blieb vollkommen ruhig; ihre Augen hafteten unverwandt auf meinem Gesicht. Diese Augen, vor denen ich mich immer so entsetzlich gefürchtet, wenn sie im Vorüberlaufen unstät und irr über mich hinflackerten, waren sehr schön; über ihren dunklen Glanz breitete sich freilich ein unheimlicher Schleier, aber es lag Seele darin, bewußtes Denken.

„Komm einmal her zu mir!“ unterbrach sie das minutenlange Schweigen.

Ich trat dicht an das Bett.

„Weißt Du, was es heißt, Jemand lieb haben?“ fragte sie, und ihre gebrochene, tonlose Stimme nahm einen innigen Klang an.

„Ja, Großmutter, das weiß ich! Ich habe Ilse so lieb, so lieb, daß ich’s nicht sagen kann – und Heinz auch!“

Um ihre Lippen zuckte ein leises Beben, und sie schob unter unsäglicher Mühe ihre auf der Decke liegende Rechte nach mir hin.

„Fürchtest Du Dich vor mir?“ fragte sie.

„Nein – nicht mehr!“ wollte ich hinzusetzen, aber ich verschluckte die zwei letzten Worte und bog mich zu ihr hin.

„Nun, so gieb mir Deine Hand und küsse mich auf die Stirn!“

Ich that, wie sie geheißen, und seltsam, in dem Augenblick, wo meine Lippen das gefürchtete Gesicht berührten, und meine Hand von den großen, kalten Fingern umschlossen und sanft gedrückt wurde, zog ein neues, süßseliges Gefühl in meine Brust ein. Ich wußte auf einmal, daß ich an diesen Platz gehörte, ich fühlte das geheimnisvolle Band des Blutes zwischen Großmutter und Enkelin, und hingerissen durch dieses plötzliche Erkennen setzte ich mich auf den Bettrand und schob sanft meinen Arm unter ihren Kopf.

Ein beglücktes Lächeln glitt durch die großen, starken Züge; sie legte sich in meinem Arm zurecht, wie ein müdes Kind, das einschlafen will.

„Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut – ach!“ flüsterte sie und schloß die Augen.

Ilse aber stand hinter dem Vorhang des Bettes; sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte bitterlich.

Es trat wieder Todtenstille ein. Sie wurde nur unterbrochen durch das leise Aufstöhnen der Kranken und ihre schweren, regelmäßigen Athemzüge, und durch das unausgesetzte leise Schnurren in dem hohen, hölzernen Standgehäuse der alten Uhr, deren großes blinkendes Zifferblatt gespenstig herüberstarrte, und die zu jeder Pendelschwingung weit und langsam aushob wie eine kranke Brust zum Athemholen.

So war abermals eine lange, bange Zeit verstrichen; es hatte bereits Eins geschlagen. Da wurde draußen das Hausthor geöffnet, und Heinz schritt in Begleitung eines anderen Mannes durch die Tenne; er brachte also, wider Erwarten, den Arzt gleich mit.

Ilse athmete sichtlich auf und winkte mir, ihm am Bett Platz zu machen; ich zog vorsichtig meinen steifgewordenen Arm an mich und ließ das Haupt der Kranken behutsam in die Kissen sinken. Sie schien weiter zu schlummern; sie gab auch kein Zeichen, daß sie es höre, als die Zimmerthüre leise geöffnet wurde, und die Männer eintraten.

Da stand auf einmal der alte Pfarrer des nächsten Dorfes im vollen Ornat inmitten des Zimmers, während Heinz, den Hut in der Hand, ehrfurchtsvoll im Hintergrund verblieb … Sie sah feierlich ergreifend aus, die ehrwürdige Gestalt des Geistlichen im schwarzen Talar, das Gebetbuch in den Händen haltend. Ilse aber fuhr empor, als sähe sie ein Gespenst; sie stürzte zurückwinkend auf ihn zu, allein es war zu spät – in demselben Moment, als fühle sie den Blick des Eingetretenen, schlug meine Großmutter auch die Augen auf.

Ich wich zurück, so sehr entsetzte mich die furchtbare Verwandlung in den Zügen, die sich eben noch so friedsam geglättet hatten.

„Was will der Schwarzrock?“ stöhnte sie.

„Ihnen Trost bringen, so Sie dessen bedürfen,“ versetzte der alte Mann mild, ohne sich durch die rauhe Anrede beirren zu lassen.

„Trost? … Ich habe ihn bereits gefunden am unschuldigen Kindesherzen, in der Liebe, die sich dahingiebt, ohne zu fragen: wie glaubst Du, und was giebst Du mir dafür? … Lenore, mein gutes Kind, wo bist Du?“

Mir zitterte das Herz bei diesen sehnsüchtigen Tönen. Ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 561. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_561.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)