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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


um Barmherzigkeit, um Leben und Freiheit für den in der nächtlichen Tiefe schmachtenden Jüngling?

Was aber mögen während der endlosen vier Jahre die Gedanken Bonivard’s gewesen sein? Die Dichtungen und Schriften, die nach seiner Haft seine emsige und schwungvolle Feder zu Tage gefördert, geben uns davon Kunde. In ihnen hat er die Ideen niedergelegt, welche ihn in seiner Einsamkeit beschäftigten. Daß die ersten Regungen seiner Brust, nachdem er sich des Lichts und der Luft beraubt sah, Zorn waren gegen den Fürsten, welcher ihn so grausam verrathen hatte, – wen wird das Wunder nehmen? Bald aber wichen diese Empfindungen höheren Betrachtungen. Bonivard war ein Mann von einem für seine Zeit ungewöhnlich reichen Wissen. Er hatte außerordentlich viel gelesen und besaß ein vorzügliches Gedächtniß neben einer höchst beweglichen Einbildungskraft. Nicht nur die Römer und Griechen waren ihm vertraut, er verstand auch Italienisch und Deutsch. Sein Lieblingsstudium war, in den alten Sprachen den Wurzeln unserer neueren nachzuspüren, und in diesen Untersuchungen hat er mehr Scharfsinn entwickelt als irgendwer seiner Zeitgenossen. Ueberhaupt suchte er als denkender Kopf allen Dingen auf den Grund zu dringen, ganz besonders den Aufzeichnungen der Bibel, die er, wie seinen Horaz, fast auswendig wußte.

So fehlte es auch in dem dunklen Verließe von Chillon seinem Geiste nicht an Gesellschaft. Dem menschlichen Verkehre entzogen, versenkte er sich in die Geschichte, deren Gesetze er zu enträtseln trachtete. Die Frucht dieser seiner Forschungen ist uns in den lateinischen Versen enthalten, welche er nachmals veröffentlichte und später selbst in sein wunderliches savoyisches Französisch übertrug. Mittlerweile gingen draußen in der Welt die Ereignisse ihren Lauf. Das Jahr 1536 war herangekommen, da beschlossen die gnädigen Herren von Bern, Savoyens Macht am Leman zu brechen. Mit sechstausend Mann fielen sie in dem Waadtland ein und marschirten bis vor Chillon. Die Genfer Freiheitsmänner – „les Enfants de Genève“, wie sie sich selber nannten –, die ihren Prior von Sanct Victor nicht vergessen hatten, wurden ihre Verbündeten. Mit zwei Galeeren, zwei Barken und einigen leichteren Fahrzeugen unterstützten sie die Expedition der Berner. Als die Flotille absegelte, war das ganze Volk am Ufer versammelt. „Rettet Bonivard!“ rief es wie aus Einem Munde.

Er war gerettet. Am 29. März dröhnte das Geschütz der Genfer vom See, das der Berner von Montreux und von Villeneuve her über die Veste; schon gegen Mittag des andern Tags ergab sich das Schloß. Jubelnd drangen die Sieger ein – ihre ersten Schritte lenkten sich nach den Kerkergrüften hinab. Man hatte gefürchtet, der durch die Flucht entkommene Gouverneur möchte seine Gefangenen mit auf das Schiff geschleppt und mit diesem den Flammen überantwortet haben. Zum Glück war die Angst grundlos. Man hörte Athemzüge, – Bonivard war noch da, er lebte noch!

„Du bist frei, Bonivard!“ jauchzten ihm seine Erlöser entgegen.

„Und Genf?“ frug er mit kaum vernehmbarer Stimme.

„Genf ist es auch,“ lautete freudig die Antwort.

Eine Zeitlang schien der Gefangene, der vier Jahre hindurch kein theilnehmendes Menschenwort gehört, nicht zu begreifen, was man von ihm wollte. Es war, als scheute er sich vor dem Lichte und der Luft der Freiheit. An der Ausgangspforte seines Kerkers kehrte er wieder um und nahm mit thränenden Augen Abschied von den finsteren Mauern, die ihn so lange begraben hatten; die Gewohnheit hatte ihm selbst sein Gefängniß zur Heimath gemacht. –

Nach Bonivard hat Chillon noch manchen Gefangenen beherbergt, unter andern auch, im Jahre 1848, den in Freiburg residirenden Bischof von Lausanne, Etienne Marilley. Er hatte die neue Verfassung der Eidgenossenschaft nicht anerkennen wollen, weil sie die bischöfliche Autorität gewissen Einschränkungen unterwarf. Seine unfreiwillige Residenz auf der Inselveste währte jedoch nur wenige Wochen.

Heute dient Chillon als Haftort für renitente Milizen, deren Strafe übrigens keine harte zu sein scheint, denn gemüthlich kann man sie allezeit in den Höfen des Schlosses umherschlendern sehen.




Pariser Bilder und Geschichten.
Aus der Journalistenwelt.


Die französische Journalistik repräsentirt gegenwärtig eine Macht, deren gewaltigen Einfluß wir während des letzten Krieges nur zu oft zu beklagen hatten; denn leider geht mit der Bedeutsamkeit des Könnens die Lauterkeit des Wollens nicht immer Hand in Hand. Ein beträchtlicher Theil der nationalen Fehler und Irrthümer, die dieses so reichbegabte Volk verunzieren, kommt auf Rechnung der Pariser Presse, die in selbstsüchtiger Absicht den verwerflichen Leidenschaften der Masse schmeichelt, anstatt dieselbe aus dem Staube der Kleinlichkeit hülfreich emporzuheben. Das Gefühl der Pflicht ist – so hart dies auch klingen mag – der überwiegenden Mehrzahl der französischen Journalisten ein unbekannter Artikel; das einzige Ziel, auf das sie ihr Talent und ihren Eifer richten, ist der materielle Erfolg ihres Blattes und ihr damit zusammenhängendes eigenstes „Glückmachen“. Es giebt, Gott sei Dank, eine Reihe der ehrenwerthesten Ausnahmen, aber, wie gesagt, sie befinden sich in der Minorität.

Doch lassen wir die Frage nach der sittlichen Beschaffenheit der französischen Presse für diesmal ohne weitere Erörterungen fallen, und werfen wir einen Blick in ihre innere Einrichtung. Suchen wir uns von den geistigen und mechanischen Vorbereitungen Rechenschaft zu geben, die erforderlich sind, um dem Pariser zum Frühkaffee eine Nummer des „Siècle“ oder des „Journal des Débats“ zu liefern. Machen wir uns mit dem Personal eines modernen französischen Blattes und mit den Aufgaben bekannt, die jedem einzelnen Rade der großen Maschinerie obliegen.

Ein bedeutendes Pariser Journal ist meistens in ein unsympathisches, düsteres Gebäude verwiesen. Ein niedriger Thorbogen, aus grauen, schmutzigen Quadern gewölbt, führt in die unwirthliche Hausflur. Die Treppenaufgänge sind eng, dunkel, halsbrecherisch. Es ist, als solle dem Zudringlichen von vornherein begreiflich gemacht werden, wie wenig man gesonnen ist, ihm die Pfade zu ebnen. Der Umstand, daß jedes größere Journal seine eigne Druckerei besitzt, trägt wesentlich dazu bei, die erkorene Baulichkeit zu verdüstern; denn wo die Jünger Gutenberg’s ihre Zelte aufschlagen, da verwandelt sich die reinste, blendendste Tünche über Nacht in das niederträchtigste Grau.

Die Residenz einer Pariser Zeitung ist in zwei scharf gesonderte Hälften getheilt: in den Bezirk der Redaction und in den der Administration.

Das Gebiet der Redaction besteht aus sechs bis sieben Räumlichkeiten, nämlich einem Gemach für die Bureau-Bediensteten, einem Wartezimmer, einem Privat-Cabinet für den Chef-Redacteur, zwei oder drei Sälen für die Unterredacteure, und einem sogenannten Redactionszimmer, in welchem sich die Bibliothek befindet.

Das Gemach der Büreaudiener ist gewissermaßen die Vorhalle, durch welche Jedermann, selbst der Eingeweihte, passiren muß, ehe sich ihm die Pforte des Heiligsten, – nämlich des Wartezimmers, – oder gar des Allerheiligsten, – nämlich des chefredacteurlichen Privatcabinets – erschließt. Aber nicht Jeder, der diese Vorhalle betritt, gelangt zur geweihten Schwelle! Viele sind berufen aber Wenige auserwählt! Wer die Parole nicht kennt, wer nicht mit unumstößlichen Beweisen darthut, daß er drinnen erwartet wird, der erhält die stereotype Antwort. „Der Herr Redac-en-chef (so lautet die sanctionirte Abkürzung) kommt vor heute Abend nicht in die Redaction!“ So schroff diese Methode auf den ersten Anblick erscheinen mag, so dringend ist sie mit Rücksicht auf die Unmasse ungebetener Gäste, die von früh bis spät die großen Journale belagern, geboten. Ein bekanntes geflügeltes Wort behauptet, der Mann, der seine Zeit am genauesten kenne, sei Monsieur de Paris, der Scharfrichter. Mit einem gleichen Grade von Autorität könnte man diesen Ausspruch auf die Bureaudiener (Garçons de bureau) anwenden. Welche bunte Gallerie von Charaktermasken wandelt nicht Tag um Tag an ihnen vorüber!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 584. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_584.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)