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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Ginsterblüthen wie eingestickte Goldsternchen. … Blaue Schmetterlinge! Ich lief ihnen nach bis unter die Birke, in das dicke Erlen- und Weidengebüsch hinein, und, husch, fuhren meine nackten, heißen Füße in den köstlich kühlen, dunklen Haidefluß! … Ich schrak empor und zog die Hände zurück und tunkte auf’s Neue tief und zornig die Feder in das tückische Schwarz, das die Menschen zu meiner Qual erfunden.

Aber nun weiter! „Ich wohne mit meinem Vater bei Herrn Claudius in K., wenn Du mir vielleicht schreiben und mir sagen willst, ob Du das Geld richtig durch die Post bekommen hast.“ – Punctum! Das war ganz gut so, aber ob sie es lesen konnte? Ilse sagte immer, man könne keinen Sinn in meiner Schreiberei finden, weil die Buchstaben „gar so falsch nebeneinander stünden“. – Ach, da fing draußen der Kranich an zu tanzen, und eine Schaar Perlhühner flüchtete scheu hinter die steinerne Teicheinfassung – Dagobert trat drüben aus dem Bosquet; er hieb im raschen Weiterschreiten mit seinem schlanken Stöckchen durch die Luft und schritt stracks auf die Karolinenlust zu. … Ich duckte mich ganz erschrocken nieder, denn er sah unverwandt nach dem Fenster, an welchem ich saß. Nein, nein, er kam nicht herein – es wäre doch zu einfältig gewesen, wenn ich meinem ersten, blitzschnellen und angstvollen Gedanken gehorcht und die Thür verriegelt hätte! … er ging hinauf in das Bibliothekzimmer; ich hörte noch seinen verhallenden Tritt droben auf der letzten Stufe der Steintreppe. … Gott, was Alles geschah doch in der Welt und wie viel gab es zu sehen und zu erleben, und doch gab es Menschen, die den ganzen Tag schrieben und sich über das starre, leblose Papier bückten, wie zum Beispiel Herr Claudius über seinen großen Folianten im Vorderhause! …

Nun noch die Unterschrift: „Deine Nichte Leonore von Sassen“, und schließlich die Adresse, die ich mühsam, Buchstaben um Buchstaben, von dem zerknitterten Brieffragment meiner Tante copirte. … Gott sei Dank! Das war der erste, aber auch ganz gewiß der letzte Brief, den ich geschrieben – ich wollte es nie wieder thun! … Da lag die Feder wieder auf dem altfränkischen Tintenfaß, wo ich sie vorgefunden – ich gönnte ihr von Herzen die ewige Ruhe einer Dahingeschiedenen.

Ilse mußte, wohl oder übel, die fünf Siegel auf das Couvert drücken; dann trug sie den Brief zornig, mit spitzen Fingern, als brenne er, aber doch eigenhändig auf die Post – fremden Händen mochte sie um alle Welt das viele Geld nicht anvertrauen.

Dieses mein armseliges Schriftstück und seine Folgen lassen mich stets an einen kleinen unschuldigen Vogel denken, der unbewußt das Samenkorn eines schlimmen, überwuchernden Unkrautes in ein künstlich angelegtes Blumenbeet trägt.




15.

Die Firma Claudius war sehr alt. Sie hatte schon geblüht und einen bedeutenden Ruf gehabt, als der Tulpenschwindel von Holland aus durch die Welt lief, in der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts, wo für drei Zwiebeln des Semper Augustus die unserm Jahrhundert völlig unbegreifliche Summe von dreißigtausend Gulden gezahlt wurde. Aus jener Zeit hauptsächlich stammte das große Vermögen der Claudius. Sie hatten sich dieses Zweiges der Blumenindustrie bemächtigt und die kostbarsten Tulpenexemplare erzielt. Man erzählte sich, viele der berühmtesten Species seien aus den geschickten deutschen Händen der Claudius hervorgegangen, man habe sie in Holland um fabelhafte Preise angekauft, adoptirt und unter holländischem Stempel in den Handel geschickt. … Je mehr aber die Reichthümer des Handlungshauses sich angehäuft, desto ehrbarer, einfacher und zurückhaltender gegen die Welt und ihre Freuden waren die verschiedenen Chefs der Firma geworden. Sie hatten die strengste bürgerliche Einfachheit und Schlichtheit aufrecht erhalten, und durch eine ganze Reihe von Testamenten und letztwilligen Verfügungen lief – für den jedesmaligen Nachfolger – eine ernste Mahnung zur Zucht und Ehrbarkeit und zum Fernhalten von jedwedem Luxus unter Androhung der Enterbung im Fall des Ungehorsams.

So kam es, daß die äußere Physiognomie des dunklen, steinernen Hauses in der abgelegenen Mauerstraße nie eine verschönende Restauration erfahren hatte. … Sie mußten Alle darin wohnen, wie sie nach einander folgten, und das Geschäftslocal, die große steingewölbte Stube mit den braunen Ledertapeten, sah heute noch genau so aus, wie dazumal, wo in ihr jene kostbaren Zwiebeln verpackt wurden, aus denen, vor den entzückten Augen der fieberhaft erregten Tulpen-Fanatiker, die despotisch herrschende Blumenkönigin in neuem Farbenspiel emporsteigen sollte.

Die alten Herren, die mit einer Hand zarte Blumengestalten pflegten und mit der andern eiserne Ketten und Panzer um ihr nachfolgendes Geschlecht zu gürten suchten, hätten doch am besten wissen sollen, daß Abart oder Varietät bei ihrem Durchbruch nicht nach dem Gängelband der Gesetze fragt, und wenn sie weise gewesen wären, hätten sie diese Blumenerfahrung auch zu Gunsten der Menschennatur gelten lassen.

Eberhard Claudius, ein geistig offenbar sehr bedeutender Mensch, hatte unter den beengenden Traditionen des Hauses jedenfalls schwer leiden müssen, aber er hatte sich zu helfen gewußt. Wie man sich erzählte, war seine schöne, vornehme und leidenschaftlich geliebte Frau in den düsteren Räumen des Vorderhauses schwermüthig geworden. … Da waren – ohne daß die Welt es ahnte – eines Tages fremde Arbeiter gekommen, hatten unter Anleitung eines französischen Baumeisters inmitten des umfangreichen Waldreviers, das durch weite Mauern umgrenzt zu dem Grundbesitz der Firma gehörte, eine Anzahl uralter, geschonter Bäume ausgerodet, und allmählich war im beschützenden Walddickicht ein heiteres Schlößchen voll Sonnenlicht und schwellender Seidenpolster, voll flatternder Liebesgötter und deckenhoher Spiegel, welche die Schönheit der angebeteten Frau glanzvoll zurückwarfen, in die Lüfte gestiegen. Und an dem Tage, wo die bleiche Blume zum ersten Mal den märchenschnell hervorgezauberten Teich umschritten, und in der weiten sonnigen Halle dem zärtlich besorgten Mann aufjauchzend um den Hals gefallen war, hatte er das Schlößchen ihr zu Ehren „Karolinenlust“ getauft.

Eberhard Claudius war auch der Begründer des Antikencabinets und der reichhaltigen Bibliothek und Handschriftensammlung gewesen. Er hatte Italien und Frankreich durchreist und mit seltenem Kennerblick Schätze der Kunst und Wissenschaft aufgefunden und eingeheimst, die aber auf deutschem Boden, in den Räumen der Karolinenlust ebenso verborgen hausten, wie die schöne, neu aufblühende Frau.

Nach ihm war Conrad, sein Sohn, Chef des Hauses geworden und in die alten Geleise zurückgekehrt. Er hatte mit puritanischer Strenge die alten Hausregeln auch im Inneren wieder aufgerichtet, hatte die Karolinenlust, als ein gegen den Geist der Vorfahren verstoßendes Werk des raffinirtesten Luxus und Weltsinnes sammt ihren Schätzen unter Schloß und Riegel gelegt, und die Varietät war erst wieder in seinem Enkel, Lothar Claudius, zum Durchbruch gekommen.

Dieser hatte sich entschieden geweigert, Vertreter der Firma zu werden, als er und sein jüngerer Bruder Erich sehr früh beide Eltern verloren. Sein feuriges Temperament entschied sich für die militärische Carrière. Er avancirte schnell, wurde geadelt und Adjutant und bevorzugter Liebling des Landesfürsten. Nun wurde die Karolinenlust wieder aufgeschlossen. Sie eignete sich vortrefflich zum Wohnsitz für den hochaufstrebenden, sich abzweigenden Ast des alten Handelsgeschlechts, und, wie um gegen jegliche fernere Gemeinschaft mit dem Vorderhause zu protestiren, wurde plötzlich sogar am Brückenkopf auf Seite der Karolinenlust eine festverschlossene Thür angebracht.

Da residirte nun, umgeben von einer wahren Waldeinsamkeit, der schöne, junge Officier, während im Vorderhause der Buchhalter Eckhof das Geschäft verwaltete, bis der in einem Knabeninstitut erzogene Erich Claudius von seinen Reisen zurückkehrte und, den alten Traditionen getreu, mit eiserner Ausdauer und Arbeitskraft sein Erbe antrat.

Für das Antikencabinet hatte der verstorbene flotte, gefeierte Officier so wenig Verständniß gehabt, wie seine Vorgänger. Die Kisten und Kasten im Souterrain waren nicht berührt worden seit langen Jahren, bis plötzlich der junge Herzog an das Ruder kam und eine wahre Leidenschaft für Archäologie an den Tag legte. Mein Vater, eine der größten Autoritäten, wurde nach K. berufen, und nun wuchsen die Antiquitäten-Liebhaber wie Pilze aus der Erde – Seine Hoheit hätte Höchstseine Residenz mit ihnen pflastern können. Die Ballgespräche bei Hofe wimmelten von griechischen, römischen und etruskischen Alterthümern, und schwerwiegende Wörter, wie Numismatik, Glyptik und Epigraphik, perlten nur so von den rosigen Lippen der graziösen Tänzerinnen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_644.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)