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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

so vielen Tausenden wird den Anstand verletzen, wird vergessen, was er seinem Nächsten schuldet. Es sind eben Javanen, arme, ungebildete, einfache Javanen, keine Europäer!

Die Uhr schlägt die zehnte Stunde. Eine mit Vieren bespannte Hofequipage, escortirt von einem Detachement der kaiserlichen Leibwache, Dragonern, verläßt das Thor des Kratons. Ehrerbietig weicht die Menge zur Seite. Es ist der Kronprinz, welcher sich in Gala im Auftrage seines kaiserlichen Bruders nach dem Hôtel des niederländischen Residenten begiebt, dem Residenten die Meldung zu überbringen, daß im Kraton Alles bereit sei für den Empfang Seiner königlichen Hoheit des Prinzen Heinrich, der eben erst wenige Tage vorher zum Besuche angekommen ist. In der Residenz haben sich gegen neun Uhr schon die niederländischen Beamten versammelt und ein Theil des nicht im Dienst befindlichen Officiercorps, sowie die Notabeln unter den europäischen Einwohnern der Hauptstadt. Zahlreiche Hof- und Privatequipagen stehen in dem geräumigen Vorhof aufgefahren. Der offene Galawagen des Residenten, mit seinem prächtigen Sechsgespann, fährt am Perron vor. Der Prinz der Niederlande und der Resident steigen ein. Ein uniformirter Lakai öffnet den großen goldenen Sonnenschirm und steigt hinten auf. Die Wache präsentirt das Gewehr. In demselben Augenblick donnert der erste Schuß eines königlichen Saluts von den Wällen der nahen Citadelle. Alle Gamellans ertönen. Langsamen Schrittes schlägt die lange Wagenreihe den Weg ein zum Kraton.

Der Kaiser, ein ehrwürdiger Mann in den fünfziger Jahren, empfängt seinen hohen Besuch an der untersten Treppe der großen Audienzstelle. Dem Prinzen den rechten Arm bietend schreitet er die Stufen hinauf. Nachdem alle Anwesenden sich auf die in zwei langen Reihen rechts und links vom kaiserlichen Dampar aufgestellten Sessel niedergelassen, reichen einige kaiserliche Pagen dem Prinzen und dem Residenten auf einem massiv goldenen, den übrigen Gästen auf silbernen Präsentirblättern den Thee dar, in Tassen von feinem französischen Porcellan. Nach einer Viertelstunde erhebt sich der Kaiser zum Aufbruch und begiebt sich, den Prinzen an seiner rechten Seite, nebst allen Anwesenden zu Fuß über mehrere Vorhöfe hinweg, wo die in Parade aufmarschirten kaiserlichen Truppen den vorüberschreitenden hohen Gästen mit gesenkter Fahne und Trommelwirbeln salutiren, hinaus zu der vor dem Kraton, auf der Alun-Alun errichteten kaiserlichen Tribüne.

Welch anderes Ansehen bietet jetzt dieser Platz dar! Gerade vor der Tribüne hat sich ein Quarré von Pikenträgern formirt. Jede Seite des Vierecks mag ungefähr fünfhundert Schritt in der Länge messen. In drei Gliedern stehen die Pikenträger, eng aneinander, jeder mit der Lanze in der Faust, zusammen mehr als sechstausend Mann stark. In der Mitte des Quarrés erblickt man fünf aus starken Bohlen gezimmerte Käfige, in einer Reihe mit je zehn Fuß Zwischenraum aufgestellt. Jeder enthält einen erwachsenen Königstiger. Die Käfige sind ganz niedrig und schmal. Der Tiger kann darin weder stehen noch sich umdrehen. Eine Schiebethür bildet den Verschluß in dem der Tribüne zugekehrten Eingang. Das andere entgegengesetzte Ende des ungefähr zehn Fuß langen Behälters ist von außen dick mit Stroh umwunden.

Außer jenen fünf Käfigen machen sich innerhalb des Quarrés noch zwei mysteriöse Gegenstände bemerkbar, am besten zu vergleichen mit großen zehn Fuß hohen länglichen Bienenkörben ohne Boden. Es ist ein Flechtwerk, aus unzähligen dicht durch- und ineinandergeflochtenen handbreiten Bambulatten zusammengesetzt.

Der Kaiser erscheint nebst seinen hohen Gästen auf der Tribüne. Sofort tritt eine allgemeine feierliche Stille ein. So eben noch allgemeiner fröhlicher Jubel und Lust – jetzt lautloses tiefes Schweigen des unzähligen Menschenmeers da unten. Auch die Gamellanmusik verstummt.

Die Tribüne, zehn bis zwölf Fuß hoch, steht dem Quarré ganz nahe. Gerade vor uns, die ganze Front entlang, zeigt sich eine Lücke in der Reihe der Pikenträger. Diese Lücke wird eingenommen von den jüngeren Prinzen und den Söhnen des höchsten Adels des kaiserlichen Hofes. Ihre persönliche Aufgabe ist es, für die Sicherheit ihres Gebieters und seiner hohen Gäste einzustehen. In zwei Reihen geschaart sitzen sie dort, la fine fleur de la chevalerie des Hofes, zu den Füßen des Kaisers, ihre langen kostbaren, oft mit Edelsteinen verzierten Lanzen neben sich. Die Etiquette legt diesem Corps d’élite ein durchaus passives Verhalten auf. Sie erheben sich nicht von ihren Teppichen, so lange keine directe Gefahr droht. Dann aber wird auch nicht Einer einen Moment zögern, wenn es sein muß, sein Leben zu wagen und zu opfern. Uebrigens hat’s damit so große Noth nicht. Noch niemals hat ein Tiger den majestätschänderischen Versuch gewagt, dort durch die Linien zu brechen.

Jetzt erscheint der Reichsverweser, umgeben von seinen Regenten. In demüthiger Haltung, nach Landessitte, nähern sie sich und nehmen ihren Sitz wenige Schritte von der Tribüne im Quarré ein, keiner redet, keiner erhebt nur den Blick.

„Ist Alles, meinem Befehl gemäß, zum Gefecht bereit?“ erklingt die Stimme des Kaisers.

„Inggih, Sinuhun!“ („Zu Befehl, Hoheit!“) antwortet der Reichsverweser.

„So laß dann beginnen!“

Der Reichsverweser verbeugt sich und tritt nun mit seinen Regenten, mit Piken bewaffnet, ebenfalls ein in das Quarré.

Sämmtliche Gamellans lassen jetzt ihr Spiel erklingen. Ihr Spiel ist jedoch kein wildes, kein lustiges, sondern ein langsames leises Adagio, gleichsam das Präludium, während Alles ringsum ihren Tönen lauscht, zu dem ergreifenden Schauspiel, welches nun folgt.

Wie ein elektrischer Schlag zuckt es in den Reihen der Pikenträger. Unwillkürlich schließen sich die Glieder, rücken näher zusammen. Der Körper richtet sich strammer in die Höhe, – der Fuß sucht festeren Boden. Scheint’s doch, als würde ein Jeder von einem gewissen bangen unsichern Vorgefühl ergriffen. Und nicht ganz ohne Ursache! Bringt doch der nächste Moment schon vielleicht Diesem oder Jenem ein frühzeitiges Ende, einen blutigen Tod. Wohl erstarken Kraft und Muth beim Anblick so vieler Tausende Lanzenträger, jedoch der Feind ist ein fürchterlicher, das Spiel ein gefahrvolles!

Ein Wink des Reichsverwesers. Langsam senken sich die Speerspitzen des vordersten Quarrés. Ein zweiter Wink erfolgt. Zwei Männer treten aus dem Gliede hervor. Ihre äußere Erscheinung macht sie kennbar als Hofbeamte. Die Arme, der ganze obere Theil des Körpers entblößt, das Haar lang und wallend, der Kopf verziert mit dem Kuluk, dem niedrigen weißen Hütchen der Hofkleidung, statt einer Waffe das kurze Messer an der Seite. Langsam, bedächtig, Schritt vor Schritt, in rhythmischer Bewegung nach dem Tacte der Gamellans, bald den rechten, bald den linken Fuß hebend und wieder senkend, nähern sie sich dem vordersten Käfig und bezeigen, indem sie sich zu Seiten des Käfigs niedersetzen, mit vornübergebeugtem Oberkörper, beide Hände an die Stirn streichend, dem kaiserlichen Gebieter ihre Reverenz. Sie erheben sich, der eine besteigt den Käfig, zieht das Messer, faßt, nachdem er die Taue durchschnitten, mit beiden Händen den schweren Schieber, hebt ihn langsam und läßt ihn einmal, dann zum zweiten Male wieder niederfallen. Dumpf wiederhallt in der lautlosen Stille das Einschlagen der Fallthür auf dem harten Holzboden der Unterlage. Sie wechseln einige Worte. Der zweite der Männer schlägt Feuer. Das Feuer zündet. Eine wirbelnde Rauchsäule am hintern entgegengesetzten Ende des Käfigs verräth, daß das dicke Strohkleid in Flammen steht. Zum dritten Male bückt der Mann sich oberhalb des Käfigs, erfaßt den Schieber, zieht an und schleudert ihn mit einem gewaltigen Rucke weit hin in die Arena.

Ihre Aufgabe ist gelöst. Ruhig kehren Beide wieder zurück zu ihren Sitzen rechts und links neben dem Käfig, dem Winke des Kaisers harrend, ehe sie sich entfernen. Keine Muskel zuckt, nicht die Spur innerer oder äußerer Erregung ist an ihnen ersichtlich. Zwei übermenschliche Wesen sitzen sie da, dort, wenige Fuß hinter ihnen die kräuselnde Rauchsäule, zwischen ihnen zwar ein Käfig, jedoch frei, ohne Bande der Tiger. Die Kehle preßt sich zusammen, kaum wagt man zu athmen. Es ist ein Augenblick höchster Spannung, eine That unerhörter Kühnheit. Selbst den stoischen Javanen muß das Herz schneller klopfen. Kein Laut, Grabesschweigen ringsum. Man könnte ein Blatt fallen hören!

Der Kaiser winkt. Eine kurze Bewegung der Hand. Langsamen Schrittes, wie sie gekommen, ohne nur einmal umzuschauen, schreiten die kühnen Gandeks auf das schützende Quarré zu. Nur die zunehmende Länge der letzten rhythmischen Fußbewegungen verräth, daß auch in ihnen – eine Menschenseele wohnt, menschliche Schwächen, menschliche Regungen!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 669. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_669.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)