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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Geltung schafft, ist offenbar eins mit der Macht der Phrase, der unheimlichen Gewalt, die in unseren Tagen mehr zu herrschen scheint, als je in anderen Zeiten geschehen ist. Eine solche auf Nichts basirte Geschichte ist die Adelheid-Sage; und doch ist sie überall erzählt und geglaubt, und Niemand hat ihr meines Wissens bis jetzt öffentlich widersprochen.

Dabei fällt mir eine andere gleich unwahre und noch viel weiter gedrungene Fabel ein, nämlich die von Moltke’s Schweigsamkeit. Alle Zeitungen erzählen Wunderdinge von dieser Eigenthümlichkeit des großen Schlachtendenkers; der Oberbürgermeister von Berlin begrüßt ihn selbst bei feierlicher Gelegenheit (1866 bei einem Festmahle im Kroll’schen Locale) als den „Schweiger und Macher“; in Gesellschaften, die durch keine besondere Kluft von ihm getrennt sind, hört man hübsche Anekdoten zum Belege seiner Kunst zu schweigen; in Schulbüchern und Compendien, die auf den Namen von Geschichtswerken Anspruch erheben, wird diese Kunst als ein höchst bedeutender Charakterzug betont; im Auslande wird die Fabel eifrig nachgebetet; – und doch ist nichts in der Welt unwahrer als sie. Graf Moltke ist nicht nur kein besonders schweigsamer Mann, obwohl er natürlich zu verschweigen wissen wird, was er am zweckmäßigsten für sich behält, sondern er ist sehr gesprächig, besitzt eine angenehme, lebhafte Unterhaltungsgabe und theilt sich gerne mit. Von den Hunderttausenden, die von seiner Schweigsamkeit erzählen, hat unmöglich auch nur ein Einziger Gelegenheit gehabt, ihn in engerem Kreise zu sehen, oder eine etwas längere Zeit sich in seiner Nähe befunden, oder gar selbst mit ihm gesprochen. Wäre dem Herrn Oberbürgermeister Seydel früher ein solches Glück zu Theil geworden, oder hätte er nicht die Fabel ohne Prüfung geglaubt, so hätte er solch thörichtes Zeug nicht dem General ins Gesicht geredet, und es wäre ihm das verwunderte Lächeln erspart worden, das Bismarck und Stolberg, die dabei standen, austauschten. – Und nun soll man nicht zum Ungläubigen und Skeptiker werden, wenn man solche Dinge erlebt!




Unter den Wellen des Niagarafalles.


Wir hatten in Buffalo, dieser hellen, freundlichen Stadt am Erie, nach anstrengender Eisenbahnfahrt gerastet und nun durchschnitt unser Dampfer die silberhelle Welle des Sees. Im prachtvollen Panorama versank die lachende Stadt mit ihrem regen Hafenverkehr allmählich den Blicken, nur reizende Villen umsäumen noch hie und da das diesseitige Ufer, das jenseitige ist nach einer genußreichen etwa einstündigen Seefahrt erreicht und wieder nimmt uns der Eisenbahnwaggon am Lande in sich auf und trägt uns zwischen blühenden Gefilden weiter und weiter, bis uns die räthselhafte Donnerstimme gemahnt, daß wir uns dem Niagarafall nahen, nach dem es uns in brennender Ungeduld und Sehnsucht hinzieht. Aber wir haben immer noch eine Strecke von vier deutschen Meilen zurückzulegen. Plötzlich eine Biegung des Wegs, da wo die Waldumsäumung sich leicht herabsenkt, und das Weltwunder zeigt sich blitzartig momentenlang, um ebenso schnell wieder in aufsteigendem Grün zu versinken. Wir standen Alle aufrecht, zu Stein gewandelt, starr und stumm und die Alltagsphrase verbarg sich unter dem Ueberwältigenden des ersten Eindrucks.

Das Endziel ist am Bahnhofe auf der canadischen Seite für heute gefunden. Wir fliegen, ja rasen den Abhang hinunter, der uns den Anblick der Fälle noch immer verdeckt hält, und stehen in der Entfernung einer halben englischen Meile vom Fall am canadischen Uferrande, der viele hundert Fuß über dem Niagarastrom ragt. Uns gegenüber, am jenseitigen Ufer, der amerikanische Fall. Die volle Breite der Bucht umspannend, in angegebener Ferne rechts, der sogenannte Hufeisenfall, auf dessen nähere Beschreibung ich später eingehender zurückkomme. Beide umrahmend und wie mit einer magischen Brücke verbindend, ein unbeschreiblich farbenreicher Bogen, der durch den Reflex des warmen Nachmittagssonnenscheins auf die bewegliche Wasserwüste erzeugt wird.

Links ein neues Wunder! Hoch zwischen Himmel und Fluth schwebt – weiter hinab, wo der Fluß sich ebnet – über dem Abgrunde, in der Leichtigkeit seines Stils einem graciösen Balcon vergleichbar, jene berühmte, eintausendzweihundertvierzig Fuß lange Hängebrücke, deren Anblick allein die mühselige Reise lohnen dürfte. Worauf nur stützt sich der kolossale Bau? – kein Pfeiler, kein Stein, der ihm zur Befestigung dienen könnte. Welcher Pfeiler auch hätte zweihundertdreißig Fuß in der Höhe vom Niveau des Flußbeckens ab dem wuchtigen Anprall des wildesten Stromes der Welt in ausreichender Widerstandskraft Stand halten können? Das Räthsel löst sich uns, da wir die Brücke betreten und am Thurme das Brückengeld für die Passage entrichten. An senkrecht hängenden und in ihrer Länge sich gegen die Brückenmitte verringernden Stricken aus starkem gewundenem Gußeisen wird sie sicher in den Lüften von Fels zu Fels getragen. Der weiße Anstrich aber läßt diese Stütze in einiger Entfernung unsichtbar.

Wir betraten nun amerikanischen Boden, nachdem wir vor Kurzem noch auf dem Gebiete des grünen Albions gestanden. – Durch köstliche Waldungen wand sich der Pfad bergauf zur Dorfstraße; noch eine Viertelstunde länger und wir hatten endlich das Endziel unserer ersten Wanderung erreicht, den deutschen Gasthof, ein liebliches zweistöckiges Häuschen, das seine Front dem Dorfe zukehrt und gar so einladend aus rosenrothem Hain von blühendem Oleander uns entgegenlacht, in seltsamen Gegensatz zu dem Tosen des flüssigen Elementes ringsum!

Wir hatten diesem Bastardkinde des aristokratisch-geräuschvollen Katarakthauses vor letzterem selbst den Vorzug gegeben, weil hier das deutsche Element in seiner freundlich feinen Wirtin und ihrem Töchterlein seine Vertretung fand, weil Alles anheimelnd in prunkender Sauberkeit den süßesten Frieden athmete in ausgesprochenem Gegensatze zur amerikanischen Rastlosigkeit und ihrem Sensationsfieber. Durch den Eßsaal schreitend traten wir hinaus auf die luftigen weingekränzten Galerien, welche um beide Etagen die ganze Breite des Hôtels auf der den Katarakten zugewandten Seite umgaben. Sie hingen buchstäblich über den Schlünden, die ihren Gischt feuchtend bis zu uns hinauf sandten. Die Katarakte bilden auf diesem Punkte die Rapids und diese gewissermaßen die Höllenküche für die weiter liegenden Fälle. Sie stürzen in weitem Bogen aus unermeßlicher Höhe über ragende Felsplateaus hinab in die gähnende Tiefe und spiegeln dort wunderbare Farben. Um das ganze Landschaftsbild spannt sich ein ewiggrüner Rahmen saftiger Matten und uralter Waldungen. Es brauste und gährte rings um uns in markerschütterndem Donnergebrüll; in schneeweißen Schaumwogen stürzten die Katarakte, sich wild um sich selbst wie im Trichter drehend, unaufhörlich herab. Die hemmenden Steinblöcke überschütteten sie dabei mit ihren Schaumkronen.

Welch eine Wunderwelt! Ich wollte, die Naturkraft, die diese in’s Dasein rief, liehe meiner Feder momentelang nur Zauberfarben, um im schwachen Abglanz das Bild annähernd malen zu können, das die trunkenen Blicke dort eingesogen. Wie arm aber wird die Sprache, wenn man solche Natur in ihren gigantischen Ausbrüchen zu schildern versucht!

Der Abend war hereingebrochen, nachdem wir uns ein wenig restaurirt; es war zu spät, um heute noch die Gemseninsel, auf der der Hufeisenfallthurm sich befindet, zu besuchen, da die Sorglosigkeit der Bewohner, die Jeden für sein Leben selbst verantwortlich und sich zu keinen Vorsichtsmaßregeln verpflichtet hält, diese Tour zu einer nicht ungefährlichen in der Nacht macht. Wir kehrten also zu dem amerikanischen Fall zurück, von dem aus wir – vom Schicksal durch Vollmond begünstigt – ein Schauspiel genießen sollten, wie es dort einzig in der Welt. Langsam stieg der Mond; zuerst berührten seine Strahlen durchleuchtend ganz schüchtern die anschwellenden, noch völlig durchsichtigen Wassermassen der Rapids, die sich bis zu dem ragenden Felsplateau der amerikanischen Seite in anwachsender Gewalt vorwälzen und von dort in die gähnende Tiefe brüllend herabstürzen, aus dem es wie der Dampf eines Vulcans zum Himmel emporqualmt. Höher steigend tanzten sie feenhaft jetzt bis zu dem Punkt, mit dem wir am Plateau des Fahrhauses ziemlich auf gleicher Höhe standen. Keine Balustrade, keine Warnungstafel, nichts als die eigene Vorsicht trennte uns von dem lockenden Element, in das die Trauereschen am Ufer ihre graziösen Hängezweige tauchten, über die es silberhell dann und wann hinfluthete.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 705. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_705.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)