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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

unter meiner Hand hervor – sie schüttelte diese Hand mit einer zornigen Geberde von sich und maß mich mit entrüsteten Blicken.

„Gehorcht?“ wiederholte ich tief beleidigt. „Kann ich’s denn ändern, wenn ich auf dem Baum sitze, und Sie gehen drunten spazieren? … Kann ich denn schreien: ‚kommen Sie ja nicht hier vorüber, wenn Sie sich ein Geheimniß zu sagen haben, denn ich sitze da und will mich um keinen Preis vor dem alten Mann sehen lassen, der mich stets so zornig anschnaubt‘? … und warum soll ich denn durchaus ein Unglückskind sein? Glücklich bin ich, so glücklich und vergnügt, daß ich’s nicht aussprechen kann, Fräulein Charlotte! … Nun ist ja Alles gut! Nun dürfen Sie stolz sein! Denken Sie doch nur, die Prinzessin Margarethe ist ja Ihre Tante!“

„Gott im Himmel, wollen Sie mich denn zu Tode martern?“ schrie sie auf und schüttelte mich so gewaltig an der Schulter, daß ich wie eine Flaumfeder hin- und herflog. Dann ließ sie mich plötzlich los und ging wie vorhin mit starken Schritten auf und ab.

„Glauben Sie nichts – ich glaube auch kein Wort!“ sagte sie nach einer langen Weile scheinbar ruhiger, wenn auch ihre Brust wogte und der Athem flog. „Der Alte dort ist kindisch geworden – sein Muckergehirn hat vor Zeiten schwer geträumt, und nun meint er, eine längst verstorbene Frau habe ihm das Märchen erzählt. … Einen leisen Anflug von Wahrscheinlichkeit erhält die Sache nur durch unsere Adoption von Seiten des Onkels – Niemand hat bisher begriffen, weshalb er sich unser angenommen, und ich füge in meinem Herzen stets nachdrücklich hinzu: ‚Aus Barmherzigkeit ganz gewiß nicht!‘ … Mich könnte nur eine Wanderung durch die Beletage der Karolinenlust überzeugen, in wie weit die Erzählung des Alten auf Thatsachen beruht. Es ist mir unmöglich, zu denken, daß die stolze Prinzessin – einen stark ausgeprägten Fürstenstolz hat unser ganzes herzogliches Haus – heimlich vermählt in der Karolinenlust gelebt haben soll. … Ich will drauf schwören, wenn man heute die Siegel von den Thüren lösen dürfte, man fände Nichts, nichts, als eine elegante Junggesellenwirthschaft, das Heim eines alleinlebenden jungen Herrn!“ –

„Schwören Sie nicht, Fräulein Charlotte!“ unterbrach ich sie flüsternd – mir war zu Muthe, als sei ich berauscht, als wirble mir das Gehirn durcheinander. – „In den Zimmern hängt ein seidener Frauenmantel, und auf dem Schreibtisch liegen Briefbogen, und ‚Sidonie, Prinzessin von K.‘ steht drauf – das muß sie selbst geschrieben haben, so fein schreibt mein Vater nicht, und Herr Claudius auch nicht – ich glaube, so schreibt nur eine Frau.“ –

Sie starrte mich an. „Sie sind drin gewesen? … Hinter den Siegeln?“

„Ja, ich hin drin gewesen,“ versetzte ich rasch, wenn auch mit niedergeschlagenen Augen. „Ich weiß einen Weg, und ich will Sie hinaufführen in die Zimmer, aber erst – wenn Ilse fort ist.“

In dem Augenblick, wo ich den Namen Ilse aussprach, überkam mich ein unaussprechliches Angstgefühl. Mir war, als stünde sie neben mir mit warnend gehobenem Zeigefinger, und als hätte ich Böses gethan, das nie, nie wieder auszulöschen sei. … Es tröstete und beruhigte mich auch durchaus nicht, daß Charlotte mich plötzlich mit ausbrechendem Jubel leidenschaftlich in ihre Arme schloß und an ihr Herz drückte – hatte ich nicht meine gute, alte Ilse für sie hingegeben? …




23.

Ilse’s Thätigkeit war in den folgenden Tagen mehr als je in Anspruch genommen. Sie hatte unter den Effecten meines Vaters noch zwei festverschlossene Kisten voll Hauswäsche gefunden, die auch seit dem Tode meiner Mutter nicht wieder an das Tageslicht gekommen war. Da fielen scharfe Worte über den wunderlichen Mann droben, der den zerbrochenen Kram wie Zuckerzeug auspacke und die schönsten Tisch- und Betttücher vermodern lasse. Ihre Züge wurden allerdings wieder hell, als sich unter ihren rührigen Händen und mit Hülfe der bleichenden Sonne das tiefe Gelb der langen Haft in fleckenlose Weiße verwandelte; aber gerade deshalb achtete sie auch weniger auf mich, es fiel ihr nicht auf, daß ich mich oft in ausbrechender Zärtlichkeit an ihren Hals warf, um durch Liebkosungen das verrätherische „Wenn Ilse fort ist“ wieder gut zu machen.

Aber auch noch andere Scrupel beunruhigten mich. Ich dachte selbstverständlich nicht daran, daß es gefährlich für mich selbst werden könne, in dieser geheimnißvollen Geschichte mitzuwirken – dazu war ich bei weitem nicht weltklug genug, ich hatte nur plötzlich ein dunkles Gefühl von Schuld dem Mann im Vorderhause gegenüber, der ahnungslos an seinem Schreibtisch saß, während Alle insgeheim Front gegen ihn machten. Er war schuldig, das unterlag auch nicht dem leisesten Zweifel – er betrog die zwei hochstrebenden Geschwister um ihren edlen Namen; ich wünschte glühend, daß ihnen so schnell wie möglich zu ihrem Recht verholfen werde; aber daß unter dem Deckmantel des tiefsten Schweigens auf seinem eigenen Grund und Boden gegen ihn gearbeitet wurde, daß der verrätherische Buchhalter und die Geschwister nach wie vor Auge in Auge mit ihm verkehrten und an seinem Tische aßen, daß mein Vater in der Karolinenlust wie in seinem eigenen Heim fort und fort schaltete und waltete, während sein Kind feindselig gegen den Besitzer wirkte, dies Alles war mir peinlich bis in die tiefste Seele hinein.

„Sie haben uns gestern belauscht,“ sagte Dagobert am andern Morgen mit finster gerunzelten Brauen zu mir, als ich, erschreckt durch seine unvermuthete Anwesenheit in der Halle, rasch an ihm vorüberlaufen wollte. Er schien auf mich gewartet zu haben. Ueber Nacht war aus dem geschmeidigen Famulus ein gebietender Herr geworden, er sah genau wieder so hochmüthig und überlegen aus, wie am Hügel in der Haide – und das verdroß mich, allein diese braunen, stolzblickenden Augen hatten so viel Gewalt über mich, daß auch nicht eines der gereizten Worte, die ich ihm sagen wollte, über meine Lippen kam.

„Charlottens Mittheilung hat mir einen tödtlichen Schrecken eingejagt,“ fuhr er fort; „ich bin überzeugt, heute noch erzählen sich die Spatzen auf den Dächern unser kostbares Geheimniß, denn Sie sind viel zu jung, viel zu unerfahren, um begreifen zu können, um was es sich hier handelt. Ein einziges unbesonnenes Wort aus Ihrem Munde wird unsern schlauen Feind stutzig machen und alle unsere Bemühungen für immer vereiteln.“

„Ich werde aber das Wort nicht sagen,“ stieß ich zornig heraus. „Wir werden ja sehen, wer am besten schweigen kann.“

Damit lief ich die Treppe hinauf und flüchtete in das Bibliothekzimmer! Nun lag auch auf meinen Lippen ein Siegel – ich wollte eher sterben, als mir auch nur einen Laut entreißen lassen.

Dagobert’s barscher Kürze gegenüber war ich trotzig, Charlotte dagegen flößte mir Scheu und Bangen ein. Stundenlang stand sie, die Arme untergeschlagen, bewegungslos drüben im Bosquet und starrte mit verzehrenden Blicken nach den verhüllten Fenstern der Beletage. Sie erschien mir viel blässer als sonst, und wenn sie meiner habhaft werden konnte, dann preßte sie mich in ihre Arme und flüsterte mit heißem Athem: „Wann endlich geht Frau Ilse? Ich esse und schlafe nicht – ich gehe an dieser Marter zu Grunde!“

Aus diesen Bedrängnissen rettete ich mich meist zu meinem Vater. Er legte eben die letzte Hand an die Aufstellung der Antiken, denn die Prinzessin hatte nunmehr ihren Besuch für die allernächste Zeit in Aussicht gestellt. Ich mußte ihm behülflich sein, und wenn ich jetzt anfing, die unscheinbarsten Thon- oder Marmorfragmente genau so subtil und zärtlich, wie er selbst, anzufassen, so hatte das seinen Grund in den Mittheilungen, die er während der gemeinsamen Arbeit einstreute. Ich sah, wenn auch immer noch mit blödem Blick, über dem „zerbrochenen Kram“ den unsterblichen Geist schweben, der vor Jahrtausenden im Menschengehirn gekreist, und nun mit jeder Form, mit jedem Farbenrest den Ring bezeichnete, den der gewaltige Stamm der Menschenentwicklung in jeder neuen Phase angesetzt.

So kam ein schwerer, ein entsetzlich gefürchteter Tag heran – er streute das brennende Gold der unverschleierten Sonne über die Waldwipfel und sah mit wunderblauem Auge aus dem See. Wie haßte ich von Neuem diesen See, die leuchtenden, höhnisch zu mir herüberstarrenden Statuen, die Baummassen, denen der nahende Herbst bereits zartgelbe Lichter aufsetzte! Ich starrte mit pochendem Herzen hinaus – die Farbenpracht brach sich in meinen funkelnden Thränen.

„Geweint wird nicht, absolut nicht, Kind,“ sagte Ilse und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 763. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_763.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)