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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Schnell nehme ich einige Hunderte davon in die Hand und schleudere sie hinab. Ich sehe sie in die Luft flattern und langsam zur Erde niederfallen. So werfe ich nach und nach wohl tausend Stück hinab; den Rest meines Vorraths bewahre ich für die anderen Preußen, denen ich unterwegs vielleicht begegne.

Was enthielt diese Proclamation? Einige einfache Worte, die da sagten, daß wir weder Kaiser noch König mehr hätten, und daß, wenn die Preußen so vernünftig wären, dies unser Beispiel nachzuahmen, man sich nicht länger gleich wilden Bestien abzumorden brauchte. Die Worte mochten an sich nicht übel sein – aber sie waren in den Wind gesprochen und wurden vom Winde hinweggeweht, so wie sie gekommen. …

Der Céleste hält sich in einer Höhe von fünftausendsechshundert Fuß. Auch nicht eine Handvoll Ballast habe ich auszuwerfen, so heiß ist die Sonne. Es ist nicht mehr zweifelhaft, mein Ballon schneidet mit Windesschnelle durch die Luft; ohne die außerordentliche Wärme aber würde mein elendes Fahrzeug bald genug gesunken und ich vielleicht mitten unter den Preußen zur Erde hinabgekommen sein. Hinter Versailles schwebe ich über einem kleinen Gehölz, dessen Name und genaue Lage mir unbekannt sind. Alle Bäume sind gefällt, der Boden ist geebnet, und eine doppelte Reihe von Zelten erhebt sich auf zwei Seiten des Parallelogrammes.“ (Hat unser Aëronaut hier wohl recht gesehen? Wir bezweifeln es. So viel wir wissen, hat das deutsche Heer nirgends Zelte gehabt.) „Kaum stehe ich über diesem Lager, so bemerke ich, wie die Soldaten aufmarschiren; ich sehe von Weitem ihre Bajonnete funkeln. Die Gewehre werden erhoben, und aus einer Rauchwolke zuckt es auf von hundert Blitzen. Erst einige Secunden darauf höre ich unter meinem Schiffchen das Zischen der Kugeln und die Detonation der Musketen. Noch eine zweite Fusilade wird mir zugesandt, und so weiter, bis der Wind mich diesen ungastlichen Gebreiten entführt. Statt jedweder Erwiderung überschütte ich meine Angreifer mit einem wahren Platzregen von Proclamationen.

Das Panorama, welches sich den Augen des Aëronauten entrollt, erneut sich mit jeder Minute. Im unendlichen Raume schwimmend, sieht er unter seiner Gondel die Erde sich höhlen wie ein ungeheures Becken, dessen Ränder in der Ferne mit dem Himmelsgewölbe verschmelzen. Ist der Wind rapid, so hat man keine Zeit, sich die Landschaft mit Muße zu beschauen; mit jedem Augenblicke ist die Scene unten auf der Erdoberfläche eine neue. Bald sind mir die Preußen, die ihr Pulver umsonst nach mir verschossen haben, aus den Blicken entschwunden; andere Bilder harren meiner. Ich entdecke einen Wald, auf den ich mit großer Geschwindigkeit zutreibe, nicht ohne eine gewisse Unruhe, denn der Céleste beginnt zu sinken. Ballast auf Ballast werfe ich aus, und mein Vorrath ist kein überreichlicher. Indeß kann ich von Paris noch nicht sehr weit entfernt sein. Der Empfang, welchen mir der Feind zu Theil werden läßt, wenn ich über einem seiner Lager hinschwebe, macht mir keine Lust, schon niederzusteigen.

Mit Erstaunen habe ich immer beobachtet, daß der Aëronaut, selbst in ziemlich beträchtlicher Höhe, in sehr fühlbarer Weise den Einfluß des Terrains verspürt, über welchem er in den Lüften dahinsegelt. Schwebt er über den Kreidesteppen der Champagne, so empfindet er eine intensive Wärme; zu ihm herauf dringt der Reflex der Sonnenstrahlen. Zieht er über einem Walde hin, so fächelt den Luftreisenden plötzlich eine merkwürdige Kühlung an, als träte er zur Sommerzeit in einen Keller. Dieser Eindruck wird mir, während ich drei Viertel nach zehn Uhr in einer Höhe von ziemlich fünftausend Fuß über Bäumen hinwegschwimme, die ich alsbald als dem Walde von Houdan angehörig erkenne. Compaß und Landkarte gestatten mir in dieser Hinsicht keinen Zweifel. Allein das Gas empfindet gleich mir den Einfluß dieser plötzlichen Frische nach glühender Ausstrahlung. Es kühlt sich ab und sinkt zusammen; der Ballon sinkt, als riefen ihn die Bäume zu sich, als wollte er sich wie ein Vogel auf ihnen niederlassen.

Ungestüm stürze ich mich auf einen meiner wenigen Ballastsäcke und entleere ihn über Bord; mein Barometer zeigt mir jedoch an, daß ich fortwährend sinke. Die Kälte dringt mir an Mark und Bein. Dreitausendfünfhundert, dann zweitausendachthundert, jetzt gar nur zweitausend Fuß – so tief bin ich in wenigen Secunden hinabgekommen; und noch fällt der Céleste fort und fort! Ich entleere nach einander drei Säcke Ballast, um meinen Ballon wenigstens in achtzehnhundert Fuß Höhe zu erhalten, denn von Steigen ist keine Rede mehr!

In diesem Moment schwebe ich über einem Kreuzwege. Ein Haufen Menschen hat sich daselbst versammelt. Gott im Himmel! es sind Preußen. Etwas weiter hin stehen noch mehrere; dort sind gar Ulanen, die von allen Seiten angesprengt kommen! Und ich besitze blos noch einen einzigen Sack Ballast! Ich schleudere mein letztes Bündel Proclamationen hinunter; inzwischen sinkt der Ballon immer tiefer und tiefer. Seine Steigungskraft ist durch den Verlust und die Abkühlung des Gases gleich Null geworden.

Ich befinde mich nur noch etwa fünfzehnhundert Fuß hoch. Eine Kugel könnte mich leicht erreichen.

Aufmerksam blicke ich hinab. Wenn ein Soldat das Gewehr auf mich anlegt, werde ich ihm ein ganzes Briefpaket von vierzig Kilogrammes an den Kopf schleudern. Von solcher Last erleichtert, wird mein armes Luftschiff bald seine Flugkraft wieder gewinnen. So lebhaft mich der Wunsch beseelt, meine Sendung pünktlich erfüllen zu können, so werde ich doch sofort meine sämmtlichen Depeschen opfern, wenn ich dadurch mein Leben retten kann.

Zum Glück ist der Wind sehr heftig. Wie ein Pfeil sause ich über den Bäumen dahin. Erstaunt sehen mir die Ulanen nach, ohne daß mich eine einzige Kugel bedroht. Ueber grüne Wiesen geht es fort, über Gebüsch und Weißdornhecken. Es ist gleich Mittag; schon bin ich der Erde sehr nahe. Wiederum sind Menschen versammelt und sehen zu mir herauf. Diesmal aber sind’s französische Bauern, in Blousen und Holzschuhen. Sie recken die Arme in die Höhe, als winkten sie mir. Doch ich bin noch dem Walde zu nahe. Ich setze daher meine Fahrt lieber noch fort, so lange wie immer möglich. Dafür werfe ich den Leuten einige Exemplare einer Pariser Zeitung hinab, die mir der Redacteur derselben beim Abfahren übergeben hat. Wie die Bauern nach diesen Blättern springen, welche in ihrem Falle auseinander gegangen sind und vom Winde getrieben umherwirbeln!

Da erscheint am Horizont eine kleine Stadt. Es ist Dreux mit seinem dicken viereckigen Thurm. Jetzt hindere ich das Sinken meines Céleste nicht länger. Eine Menschenwoge wälzt sich mir entgegen. Ich rufe mit aller Anstrengung meiner Lunge hinab:

‚Liegen Preußen in der Gegend?‘

Tausend Stimmen antworten zugleich:

‚Nein, nein. Kommen Sie herab!‘

Ich befinde mich nur noch hundertundfünfundsiebenzig Fuß über der Erdoberfläche. Mein Leitseil streift schon die Bäume – da aber packt mich ein Windstoß und schlägt mich jählings wider einen Hügel. Der Ballon neigt sich. Ich empfange einen furchtbaren Stoß, der mir heftige Schmerzen verursacht. Meine Gondel schlägt um und mein Kopf prallt an den Boden an. Ich will meinen letzten Sack Ballast auswerfen, um das allzurasche Fallen zu paralysiren, in diesem Augenblicke aber entgleitet das Messer, mit dem ich die Ankertaue von den sie zusammenhaltenden Bändern zu lösen im Begriff bin, meinen Händen. Von Neuem erhebt sich der Céleste plötzlich auf zweihundert Fuß, dann stürzt er schwerfällig zur Erde nieder. Diesmal ist es mir gelungen, den Anker hinabzulassen und die Ventilschnüre zu zerschneiden. Der Ballon steht. In Schaaren kommen die Bewohner von Dreux herbeigeströmt. Ich selbst habe mir zwar einen Arm verstaucht und eine Beule am Kopf, aber voller Freude steige ich an’s Land – denn ich bin unter Freunden.

Alles will mir die Hand drücken. Wie steht es in Paris? Was denkt man in Paris? Wird Paris sich halten können? So gehen die Fragen durcheinander. Ich antworte, so gut ich kann, und lasse eine kleine gefühlvolle Rede vom Stapel. Dann entleere ich den Céleste und ein Wagen nimmt uns Alle auf, mich, meine Depeschen und meinen Taubenbauer. Die armen Thiere scheinen sich von ihrer Aufregung noch immer nicht erholt zu haben!

Im Postamte gebe ich meine Briefschaften ab. Ich kann sie nicht ohne eine gewisse Rührung betrachten. Da liegen vor meinen Augen mehr als dreißigtausend Briefe aus Paris! Dreißigtausend Familien werden dem Ballon danken, der ihnen hoch über Wolken hinweg Kunde von den Belagerten gebracht hat! Welche Freudenthränen umschließen diese Briefbündel! Welche Romane, welche Geschichten, welche Tragödien vielleicht bergen sich unter der groben Hülle des Postsackes! …

Jetzt zu meinen Tauben. Ich eile denn zum Souspräfecten, bei dem ich meine geflügelten Boten in Sicherheit gebracht habe. Sie sind inzwischen gespeist und getränkt worden und regen munter die Flügel in ihrem Käfig. Willig läßt sich die eine von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 787. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_787.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)