Seite:Die Gartenlaube (1871) 810.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

der kleine Vogel erfreue sich ja einer recht lauten Kehle – sie habe so im Vorübergehen einige Töne aufgefangen; als mich aber eines Sonntags Nachmittag mein Mitsänger, der junge Helldorf, bis an die Gartenthür begleitet hatte, da fuhr sie drinnen aus dem Gebüsch auf mich zu und stieß ein unauslöschliches Gelächter aus, das sie dann und wann mit einem höhnischen „Darf man gratuliren, Fräulein von Sassen?“ unterbrach.

Ich ließ sie gewähren, weil ich in Wirklichkeit ihr Wesen nicht verstand. Im Uebrigen beherrschte sie sich hinsichtlich des schwebenden Geheimnisses weit mehr, als ich erwartet hatte. Nur in zwei Dingen trat der erhöhte Stolz schärfer zu Tage – in dem Umstand, daß sie zu Fräulein Fliedner’s Verdruß bei Tische nie anders mehr als in starrer Seide erschien, und in ihrer Verachtung des bürgerlichen Elementes. Am meisten mußte das der junge Helldorf fühlen, den Herr Claudius immer mehr in sein Haus zog. Sie behandelte ihn mit einer Kälte und Schroffheit, die mich oft erbitterte, um so mehr, als sich allmählich ein schönes, rein geschwisterliches Verhältniß zwischen ihm und mir feststellte. Zu meiner Genugthuung bot er der verletzenden Behandlung stolz die Stirn – er ignorirte die hochmüthige Dame völlig … Ich konnte das sehr oft beobachten, weil auch ich an den kleinen Theecirkeln im Hause Claudius theilnahm, und zwar stets in Begleitung meines Vaters. Zwischen ihm und Herrn Claudius bestand ein ziemlich lebhafter Verkehr. Herr Claudius kam sehr viel, was er früher nie gethan, in die Bibliothek, und mein Vater ging oft Abends hinüber in das zur Sternwarte eingerichtete Zimmer. An den Theeabenden saßen sie stets zusammen – sie schienen sich sehr gut zu verstehen; nur berührten sie nie, so oft ich auch hinlauschen mochte, die Münzangelegenheit. … Meine Stellung zu Herrn Claudius aber wurde trotz dieses Verkehrs keine andere. Ich zog mich im Gegentheil strenger und ängstlicher als je von ihm zurück – das Geheimniß, um welches ich wußte, stand zwischen uns. Im Januar, mit Dagobert’s Rückkehr, sollte ja die Angelegenheit zum Austrag kommen – war ich bis dahin freundlich oder auch nur scheinbar harmlos ihm gegenüber, wie falsch stand ich dann da, wenn ihm die Augen aufgingen! … Und noch etwas scheuchte mich aus seiner Nähe. Oft, wenn ich im Gespräch mit Anderen plötzlich aufsah, da überraschte ich seinen Blick, wie er in einer Art von schmerzlicher Versunkenheit an mir hing; ich wußte wohl, warum – er sah immer wieder die Lüge, die meine junge Stirn befleckte. Das jagte mir das Blut in das Gesicht und stachelte auf’s Neue den häßlichen Trotz des Unrechts in mir auf … Er nahm mein abweisendes Verhalten hin als etwas, das er nie anders erwartet habe. Mit keinem Wort betonte er die Vormundschaftsrechte, die ihm Ilse eingeräumt, obgleich ich wußte, daß er nach wie vor über meinem Thun und Treiben wachte und sich insgeheim sogar mit meinem selbstgewählten Lehrer in Verbindung gesetzt hatte – er hielt das Versprechen, das er Ilse gegeben, unverbrüchlich, so drückend und lästig es ihm auch mit der Zeit werden mochte. Mich überkam oft eine jähe Angst, wenn ich ihn mit seinem milden Ernst, in so unantastbarer Haltung unter seinen Gästen sitzen und das in der Luft schwebende Geheimniß über seinem Haupte drohen sah – wie würde er wohl hervorgehen aus all den Enthüllungen?

So waren drei Monate vergangen. Mit Stolz sah ich auf die festen, schlanken Züge meiner Handschrift, denen ich nun auch Seele einzuhauchen wußte. Stand ich doch bereits in Briefwechsel, und zwar in einem geheimen, mit meiner Tante Christine. Sie hatte mir für die Uebersendung des Geldes in fast überschwenglicher Weise gedankt und mir angezeigt, daß sie sich nach Dresden in ärztliche Behandlung begeben und die sichere Hoffnung habe, ihre Stimme wieder zu bekommen. Ihren Versicherungen nach war ich ihre Retterin, ihr Schutzengel und das einzige Wesen, das noch Mitleid mit einer armen, schwergeprüften Frau habe – sie sprach wiederholt den heißen Wunsch aus, mich nur einmal in ihre Arme schließen zu dürfen. Diese Correspondenz erschütterte mich dergestalt, daß ich eines Tages meinem Vater gegenüber schüchtern die unglückliche Tante erwähnte. Er fuhr empor und verbat sich das für alle Zeiten, wobei er entrüstet sagte, er begreife Ilse nicht, daß sie dieses dunkle Stück Familiengeschichte vor meinen Ohren habe laut werden lassen. … Ihre immer häufiger werdenden Briefe ängstigten mich darauf hin nicht wenig, allein ich konnte es doch nicht über das Herz bringen, sie zu ignoriren.

Aber auch noch andere Sorgen brachen in mein Leben herein. Ich, die ich bis vor wenigen Monaten nicht gewußt hatte, was Geld war, ich rechnete jetzt ängstlich mit jedem Groschen, denn – er fehlte häufig. Ich hatte freudig und nicht ohne Geschick unser kleines Hauswesen übernommen; ich richtete jeden Abend einen hübschen, kleinen Theetisch in der Bibliothek her, eine Annehmlichkeit, die mein Vater längst nicht mehr gekannt hatte; aber daß dies schließlich auch bezahlt werden müsse, begriff ich nicht eher, als bis mir das Stubenmädchen einen langen Zettel voll Auslagen vorlegte.

„Geld?“ schreckte mein Vater aus seinen Papieren auf, als ich ihm ahnungslos den Zettel brachte. „Mein Kind, ich begreife nicht – wofür denn?“ Er fuhr suchend in die Westentasche und in die Seitentaschen des Rockes. – „Ich habe keines, Lorchen!“ erklärte er achselzuckend mit einer hülflosen Angstgeberde. „Wie ist mir denn – habe ich nicht das Abonnement im Hotel erst vor Kurzem gezahlt?“

„Ja, Vater. Aber das sind Auslagen für Abendbrod“ – stotterte ich betroffen.

„Ach so!“ Er zerwühlte mit beiden Händen das Haar. „Ja, mein Kind, das ist mir etwas ganz Neues – ich habe das nie gebraucht … Da, da“ – sagte er und stieß nach einem aus grauem Papier hervorguckenden Stückchen Zucker, das auf seinem Schreibtisch lag – „das ist außerordentlich nahrhaft und sehr gesund.“ –

Ach wie erschrak ich, und wie gingen mir plötzlich die Augen weit auf!

Mein Vater hatte eine bedeutende Einnahme; aber er versagte sich das Nöthigste um seiner Sammlungen willen. Daher dieses zum Entsetzen abgemagerte Gesicht, das bereits unter meiner und Ilse’s kurzer Pflege ein auffallend gesünderes Aussehen bekommen hatte. Wenn ich auch wollte, um seiner selbst willen durfte ich auf diese seltsame Zuckerdiät nicht eingehen. Aber mir fehlte aller Muth, ihm gegenüber aufzutreten, nicht einmal zu bitten wagte ich, wenn ich nun sehen mußte, daß er Hunderte von Thalern für vergilbte Handschriften oder eine alte Majolikavase hingab und nicht einen Pfennig in der Tasche behielt. Sein sanftes, liebreiches Wesen, seine fast kindliche Glückseligkeit, mit der er mir die acquirirten Schätze zeigte, und mein eigener hoher Respect vor seinem Beruf und Wissen verschlossen mir den Mund.

Ich suchte den kleinen Geldbeutel hervor, den mir Ilse „für den Nothfall“ im Koffer zurückgelassen, und den ich bis dahin mißachtet hatte. Sein Inhalt reichte für einige Zeit, aber nun, mit dem letzten Groschen kam die quälende Sorge. Ilse durfte ich nicht mit einer derartigen Bitte kommen, und Herrn Claudius auch nicht; ich mußte ihm ja stets mittheilen, in welcher Weise ich das meinem Vermögen entnommene Geld verwenden wollte. Jetzt, wo ich anfing, Menschen und Verhältnisse klarer zu beurtheilen, jetzt erinnerte ich mich auch, daß er das Sammeln, sobald es zur Leidenschaft wurde, streng verwarf – ich verstand seinen Ausspruch, solch ein Sammler nehme die Mittel vom Altar, nunmehr vollkommen und durfte nicht erwarten, daß er auf mein Verlangen einging. Aber über das, was ich selbst verdiente, hatte er kein Recht; ich brauchte ihm nicht einmal zu sagen, zu welchem Zweck ich den Erlös vergeudete – wie ein Blitzstrahl kam mir der rettende Gedanke. …

Schon am zweiten Tage nach dem Unglück in Dorotheenthal hatte ich das junge Mädchen, dessen Mutter ertrunken war, am Fenster eines der Hinterzimmer sitzen sehen – das schöne, bleiche Gesicht tief vornüber gebückt, hatte sie so emsig gearbeitet, daß es mir unmöglich gewesen war, auch nur einen Blick von ihr zu erhaschen.

„Was thut sie denn?“ hatte ich Fräulein Fliedner gefragt.

„Sie hat um Beschäftigung gebeten, weil sie meint, nur auf diese Weise Herr ihrer Schmerzen zu werden. Sie schreibt die Blumennamen auf die Samendüten – ihr Vater war Lehrer in Dorotheenthal – sie schreibt sehr schön.“

Das fiel mir wieder ein, als Emma, das Stubenmädchen, mir eines Tages abermals ein Papier voller Zahlen vorlegte – ich hatte nicht über einen Pfennig mehr zu verfügen und bat sie stockend um einige Tage Frist. Sichtlich erstaunt und betroffen verließ sie das Zimmer, und ich ging Abends um die sechste Stunde mit klopfendem Herzen in das Vorderhaus. … Es war Theeabend bei Herrn Claudius – mein Vater war auch eingeladen,

aber vorläufig verweilte er noch im Schloß, um die Prinzessin

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 810. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_810.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)