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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Entsetzens gehen aus seiner einzigen Stimme persönlicher und individueller hervor als aus der einstudirtesten Gesellschaft. Dazu sein überraschendes Talent in Vorführung Shakespeare’scher Lustspiele. Er beginnt mit heiterer Plauderei und stimmt spielend das Zwerch- und Trommelfell zugleich, bis die Narren und Kammerkätzchen, fette Falstaffs und lustige Elfenvölkchen, jedes nach seinem Charakter, auf unseren geistigen Bühnen erscheinen und den überwältigenden Humor des Dichters zur Geltung bringen.

„Der Vortrag macht des Redners Glück“; bei Genée ist es die von ihm geschaffene und meisterhaft entwickelte Methode im Verein mit der Einfachheit und Klarheit der einleitenden und verbindenden Erklärungen, sodann sein Sprachorgan voll reichster Klangfülle in Höhe und Tiefe, in nie heiser werdender Kraft und Ausdauer und der wunderbarsten Modulationsfähigkeit, so daß er Dutzende von Personen männlichen und weiblichen Geschlechts in genau gehaltenen Unterschieden und selbst ganze Volksmassen durcheinander und sogar zugleich sprechen lassen kann. Letzteres Kunststück ward als der Wunder größtes gepriesen; Genée selbst nennt es blos einen kleinen Kunstgriff, den er beiläufig mit erlernt habe. Aber die Art, wie er ganze Volksmassen mit ihren verschiedenen Stimmen bald übereinander thürmt, bald durcheinander wirft, daß man sie deutlicher zu sehen und zu hören glaubt als in Wirklichkeit auf der Bühne, wie im Cäsar und Coriolan, das ist nicht blos ein Kunststück.

Ueberhaupt finden wir in der Shakespeare-apostolischen Thätigkeit Genée’s mehr als ein blos künstlerisches Verdienst. Er wirkt zugleich als der sittliche und ästhetische Befreier aus noch ärgeren Fesseln als denen, die einst den jungen Goethe und die deutsche Literatur einengten und welche Shakespeare brach.

Genée giebt uns in der Blüthe seines Ruhmes und edler, gesunder Persönlichkeit freudige Hoffnung, daß er an diesem Befreiungswerke und dem Aufbau neuer Tempel der Kunst und des Cultus und deutscher Freieinigkeit sich immer noch erfolgreicher betheiligen werde.

Wie weit entfernt Genée in der Ausübung seiner Kunst von der sich selbst genügenden Katheder-Weisheit ist, das zeigte sich recht beim Ausbruch unseres Krieges in Frankreich. Auf einer Erholungsreise in die bairischen Berge begriffen, traf ihn in München das Donnerwort: „Der Krieg ist erklärt!“ Sofort ging Genée in die nächste Volksversammlung, welche in dem stark erregten München stattfand. Nachdem mehrere politische Führer zu der Versammlung gesprochen, ergriff Genée das Wort und sprach mit ganzer Kraft der Begeisterung und des heiligen Zornes eine kleine, frisch seinem Herzen entströmte Dichtung, die mit den Versen schloß:

„Wer fragt nun: Ob Preußen-, ob Baierland,
Ob Schwaben oder ob Sachsen?
Ein einiger, fester, ein deutscher Stamm –:
So sind wir dem Feinde gewachsen.
Und wer kein Feigling, kein Bube ist,
Der sei ein Deutscher zu dieser Frist!“

Mit diesem Liede, wohl eins der ersten und kräftigsten, die der Krieg hervorgerufen, eröffnete Genée den daraus sich entwickelnden Cyclus seiner „Sturmlieder gegen den Franzosen“. Als er nach Dresden, wo er mit seiner Mutter und Schwester lebt, zurückgekehrt war, erging an ihn von Seiten der Dresdener „Liedertafel“ die Aufforderung, bei einer zu einem patriotischen Zwecke auf der Terrasse des „Waldschlößchen“ veranstalteten Production etwas zu sprechen. Es war am 6. August, und Genée brachte gleich ein halbes Dutzend seiner „Sturmlieder“ mit, die bei der Masse des Publicums eine ungeheure Wirkung machte. Die Begeisterung, die jeder neue poetische Apell an das deutsche Herz hervorrief, erreichte ihren Höhepunkt bei dem Gedichte, welches die schandvolle französische Lüge „Das Kaiserreich ist der Friede!“ brandmarkt und mit den Versen schloß:

„Nun vorwärts, Brüder, in’s Gefecht!
Und wenn der Himmel schützt das Recht,
Tönt’s bald im deutschen Liede:
Das Kaiserreich – der Friede!

Minutenlang brauste hiernach der Jubelruf der Versammlung weithin über die Elbe, und die Schlagworte seiner Gedichte, welche fast alle Wahrheit geworden waren, erlangten in den Kreisen, wo Genée durch die hinreißende Gewalt seines Vortrages sie lebendig machte, eine außerordentliche Popularität. Für das Münchener Hoftheater hatte er im Einverständnis mit dem trefflichen Intendanten v. Perfall Heinrich v. Kleist’s gewaltige „Hermannsschlacht“ bühnengemäß eingerichtet und für die politische Situation der Gegenwart umgewandelt. Auch der Eindruck dieser Aufführung war dort ein zündender. Er selbst trug in Wien noch während des Krieges die „Hermannsschlacht“ im akademischen Gymnasium vor und begeisterte damit die deutsch empfindenden Herzen.

Ein so rein sich äußerndes deutsches Mannesgefühl war bei einem Shakespeare-Gelehrten natürlich, der, wie Genée, der modernen verdunkelnden und trockenen, in allerlei eingeschachtelten Systemen sich hinschleppenden Aesthetik mit aller Kraft entgegenarbeitet.

Nach dem wiedergewonnenen Frieden, den uns das deutsche Kaiserreich erhalten soll, kehrte Genée von den Rostris in den Hörsaal zurück. Zunächst aber nahm er seine Friedensthätigkeit wieder damit auf, daß er dem Sieg des deutschen Geistes seine Huldigung darbrachte, in den Vorträgen des Goethe’schen „Faust“ – bis er dann wieder zu demjenigen gelangte, der in der Sturm- und Drangzeit, in der gährenden Epoche des jugendlichen Faust-Goethe, uns im Kampfe gegen die französische Aftermuse ein so kräftiger Helfer war: zu Shakespeare! – Treffend sagt Genée in seinem soeben erschienenen neuen Buche („Shakespeare. Sein Leben und seine Werke.“ Bibliographisches Institut.) über den britischen Dichter: „Nur aus einer großen und kraftvollen Nation konnte eine solche Erscheinung hervorgehen; aber es muß auch eine gute und zum Großen berufene Nation sein, die – wie die deutsche – einen solchen Geist sich anzueignen verstand.“

Und in diesem Sinne möge Genée fortwirken und die Lorbeeren nehmen von einem für die Einheit und Freiheit und den wehrkräftigen Frieden gesicherten Volke.

H. Beta.




Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.

Nr. 10. Der unheimliche Gerichtsschreiber.

Es war in Sens und es dunkelte schon, als wir in die Stadt einzogen durch stattliche Straßen und wahrhaft großartige Plätze, die von städtischer und ländlicher Bevölkerung außerordentlich belebt waren. Tags zuvor war die Stadt der Schauplatz leidenschaftlicher Excesse gewesen. Die Blaukittel hatten preußische Post- und Telegraphenbeamte, die den Dienst dort einrichten sollten, aus den Wagen und von den Pferden gerissen, mißhandelt und würden sie getödtet haben, hätte nicht der Maire dieselben der Wuth des Pöbels entrissen, indem er sie gefangen setzte; nur dadurch war es ihm gelungen, sie vor den Händen der aufgeregten Volksmasse in Sicherheit zu bringen. Auch jetzt bei unserem Einzuge schauten uns aus jedem Blicke, aus jeder Miene Haß und Drohung entgegen, aber auch aus jedem Fenster, jeder Thür zugleich unsere Pickelhauben, und darum war die Sache nicht so sehr ängstlich, obwohl Gerüchte gingen, daß trotzdem in der Umgegend mehrere von unseren Soldaten verschwunden seien.

Mein Quartierbillet lautete auf einen Gerichtsschreiber So und So. Das kleine einstöckige Haus lag zwar am städtischen Boulevard, aber in einer nichts weniger als freundlichen Umgebung. Hohe, entlaubte Bäume warfen düstere Schatten auf das einstöckige, schmutziggrau angestrichene Haus, und die kahlen, dürren Aeste streckten sich über das Dach desselben wie Dämonen nach einer ihnen verfallenen Menschenseele aus. Das dürre Laub lag vor dem Hause dicht aufgeschüttet, und jeder Schritt verursachte ein eigenthümliches Rauschen und Rasseln. Anmuthig war der Eindruck eben nicht, den ich äußerlich von dem Quartier erhielt, in welchem ich die nächsten achtundvierzig Stunden zubringen sollte, noch weniger aber, als auf mein Schellen sich die Pforte des Hauses wie in scheuer Furcht öffnete und ein paar große schwarze

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 837. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_837.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)