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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Diese Niederschrift habe ich zwei Jahre nach meinem Hochzeitstage begonnen. Die Korbwanne stand neben meinem Schreibtisch, und zwischen den Kissen athmete ein junges Wesen – mein schöner, blonder Erstgeborener. Für dieses kleine Wunder, das ich immer wieder anstaunen mußte, wollte ich meine Erlebnisse niederschreiben. … Seitdem hat auch ein prächtiger, braungelockter Bursche mit der kräftigsten Jungenstimme in dem grünumschleierten Korb gelegen, und jetzt schläft Lenore, das einzige Töchterchen des Claudiushauses, auf derselben Stelle – seit sieben Jahren bin ich verheirathet. Ich sitze in Charlottens ehemaligem Zimmer. Die dunklen Vorhänge sind verschwunden – es ist sonnig um mich her, Rosenbouquets, gestickt und gemalt, liegen hingestreut auf Teppich, Möbeln und Wänden, und in den Fensternischen duften förmliche Blumenhecken. Lenore schlummert, die Fäustchen an die Wangen gedrückt – es ist so still, daß ich die Fliegen summen höre – nun endlich zum Schluß!

Da wird die Thür aufgestoßen, und sie kommen hereingestürmt, die zwei Stammhalter des Claudiushauses.

„Aber Mama, Du schreibst auch zu lange!“ ruft der Blonde vorwurfsvoll. „Wir wollen doch Sauermilch im Garten essen – Tante Fliedner ist schon in der Laube, und den Großpapa haben wir auch geholt.“

Ich sehe ihm mit zitternder Lust in das Gesicht – er schießt piniengleich in die Höhe; aber, o weh – wie wird es um die Autorität stehen, wenn er der kleinen Mutter über den Kopf gewachsen ist? … Der kleine Braune aber hebt sich auf die Zehen, legt mir einen fingerdicken Strick und ein schwankes Weidengertchen quer über das Manuscript und bittet mit seiner tiefen, treuherzigen Stimme: „Mama, eine Peitsche machen!“

„Geht nur einstweilen in den Garten,“ sage ich, während meine Finger sich abmühen, die fast unmögliche Peitsche herzustellen. „Ich muß erst noch Etwas von Tante Charlotte schreiben.“

„Von Paulchen auch?“ – Auf meine Bejahung laufen sie wieder hinaus, die Treppe hinab. –

Am Tag nach meiner Rückkehr aus der Haide verließ Charlotte das Claudiushaus, um in ein Institut einzutreten, und kurze Zeit darauf ging der junge Helldorf nach England – er hatte um Charlottens Hand gebeten und war zurückgewiesen worden. Mir gestand sie schriftlich ein, sie habe ihn in ihrem Hochmuth zu schlecht behandelt, und nun sie von ihrer vermeintlichen Höhe herabgestürzt sei, werde sie ihrer Neigung noch weniger Raum geben. Wir litten nicht, daß sie nach vollendeten Studien in fremde Abhängigkeit trat – sie kehrte auf unsere Bitten in das Claudiushaus zurück – eine leidenschaftlich liebende Tante für unsere Kinder. Helldorf’s Name kam nie über ihre Lippen, obgleich sie, wie wir auch, viel im Hause des Oberlehrers verkehrte. Da kam der Krieg im Jahre 66. Max Helldorf wurde einberufen und bei Königgrätz schwer verwundet. … Eine Stunde nachher, als der Oberlehrer schreckensbleich die Nachricht in unser Haus gebracht hatte, trat Charlotte im Reiseanzug in mein Zimmer. „Ich gehe als Diaconissin, Lenore,“ sagte sie fest. „Vertritt meine Handlungsweise beim Onkel – ich kann nicht anders.“

Claudius war verreist – ich ließ sie mit tausend Freuden gehen. Nach vier Wochen unterschrieb sie einen langen, glückathmenden Bericht als „Charlotte Helldorf“. Der Feldgeistliche hatte den Genesenden und seine treue Pflegerin eingesegnet. … Jetzt wohnt das junge Paar in Dorotheenthal – Helldorf ist Procurist der Firma Claudius geworden – und seit „Paulchen“ seine großen Augen aufgeschlagen hat, begreift Charlotte nicht mehr, wie sich die Menschen, die alle mit gleichem Recht in die Welt treten, in Hochmüthige und Mißachtete zerspalten können. …

Ach, jetzt höre ich feste Schritte die Treppe heraufkommen – die Schreibstube ist geschlossen. … Ich schreibe weiter und thue, als hörte ich ihn nicht kommen, den Mann, der mich mehr verzieht, als er verantworten kann. Ich lache ihn stets aus, wenn er mich dann in seine Arme nimmt und über meinen Kopf hinweg wie entschuldigend zu meinem Vater sagt: „Sie ist ja das älteste und unbesonnenste von meinen Kindern.“ Und mein Vater nickt mit seinem zerstreuten Lächeln dazu – er ist noch immer sehr zerstreut, mein guter Papa, aber er wird von uns auf den Händen getragen, und sein neuestes Werk macht Furore in der Gelehrtenwelt. Vielleicht sind seine Enkel daran schuld – sie dürfen in der restaurirten Bibliothek rumoren, so viel sie Lust haben, und klettern auf seinen Schooß, während er schreibt. Seine Stellung bei Hofe ist angenehmer denn je, und die Prinzessin kommt oft in das Claudiushaus; aber über dem Lotharbild hängt ein dunkler Vorhang, und die Tapetenthür in der Karolinenlust ist zugemauert worden. …

Jetzt ist der hohe, noch immer schlanke Mann leise eingetreten, er biegt sich über die Korbwanne und betrachtet sein schlafendes Töchterchen. …

„Es ist erstaunlich, wie das Kind Dir ähnlich sieht, Lenore.“

Ich springe stolz auf, denn er sagt das mit einem entzückten Blick. … Fort mit der Feder und dem Manuscript! Sie haben keine Farben für den Sonnenglanz des Glückes über der Stirn des „Haideprinzeßchens“!




Pariser Bilder und Geschichten.

Curiose Leute.
Von Ludwig Kalisch.

Es giebt in Paris eine ganz eigenthümliche Menschenclasse, in welcher sich die geistvollsten und verrücktesten Köpfe finden und die verschiedensten Nationalitäten vertreten sind. Sie hat ihre eigene Physiognomie, und bietet dem Psychologen das interessanteste Studium dar. Ich meine die Classe der Erfinder. Es werden in Frankreich jährlich über viertausend Erfindungspatente vertheilt, und Jeder, der ein solches Patent besitzt, wiegt sich in den herrlichsten Hoffnungen und baut sich die prachtvollsten Luftschlösser. Ja, nicht Wenige von ihnen glauben bereits ihre Unsterblichkeit verbrieft und sehen schon im Geiste die ihnen von der dankbaren Nachwelt errichteten Statuen in Marmor und Erz prangen. Sie unterscheiden sich von den Poeten darin, daß sie nicht nur von dem ewigen Nachruhm, sondern auch von den irdischen Glücksgütern träumen, daß sie schon diesseits des Grabes ein Paradies vor sich sehen.

Es giebt wirkliche, es giebt eingebildete Erfinder. Zu diesen gehören diejenigen, die entweder längst erfundene Dinge erfinden, oder deren Erfindung unpraktisch oder unausführbar. Doch gerade diese machen sich die meisten Illusionen. Leider werden aber häufig die genialen Erfinder, welche berufen sind, der Industrie neue Bahnen zu brechen, mit den hirnverbrannten Menschen verwechselt, die ihre fixe Idee für eine epochemachende Erfindung halten. Palissy wurde für wahnsinnig gehalten, ebenso de Caux, und Napoleon hat erst, als er, ein Gefangener, das erste Dampfschiff sah, zu seiner Demüthigung gesehen, daß der von ihm für verrückt erklärte Fulton ein schöneres Blatt in der Geschichte haben werde, als er, der größte Niedersäbler seiner Zeit.

Doch sprechen wir nicht von der Vergangenheit und nicht von jenen großen Geistern, die für ihre großartigen Erfindungen mit einem Märtyrerthum belohnt wurden, und sprechen wir zuerst von den bescheidenen Erfindern in der Hauptstadt Frankreichs.

Die zahlreichsten und zugleich anspruchslosesten Erfinder leben in den Pariser Vorstädten, besonders in Ménilmontant und in Belleville. Es sind Arbeiter, die das ganze Jahr hindurch sich den Kopf zerbrechen, um ein neues Kinderspielzeug für die Weihnachtszeit zu Stande zu bringen. Diese Leute wohnen im sechsten Stocke, in der nächstes Nähe der Schornsteine, und ringen mit Hunger und Kummer in der Aussicht auf eine schöne heitre Zukunft. Ist endlich der neue Gegenstand, der als Christbescheerung die Kinderwelt entzücken soll, glücklich vollendet, so fangen erst recht die Leiden an. Zuvörderst müssen nämlich die hundert Franken zur Lösung des Patentes herbeigeschafft werden, und die Herbeischaffung dieser Summe erfordert vielleicht noch mehr Scharfsinn als die Erfindung selbst. Nachdem der Erfinder das Geld durch Entbehrungen aller Art aufgetrieben und das Patent in der Tasche hat, begiebt er sich zu einem der großen Spielwaarenhändler

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 868. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_868.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)