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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Wissen sind dann die Verse gedruckt erschienen; sie wurden für mich eine Quelle des Verdrusses mit meiner Familie. Bürger nahm Interesse an der Verfasserin, meine Eitelkeit jubelte, meine Einbildung erhitzte sich, die sogenannten guten Freunde kamen dazu, und ich ward in ein Verhältniß zu dem unbekannten Manne förmlich hineingesteigert und brannte danach, ihn kennen zu lernen! – Ach, schon beim ersten Anblick war meine Liebesgluth gestillt; ich kann es nicht beschreiben, wie seltsam, wie eiskalt mich sein Wesen berührte. Wie hatte ich ihn mir so anders, so ganz anders gedacht! Wie falsch hatte meine Phantasie gemalt! O, hätte ich den Muth gehabt, ihm und der Welt meine Täuschung zu gestehen!“

„Und war diese Ehe niemals glücklich?“ fragte Herr v. W. theilnahmvoll.

„Doch, doch, im Anfange, so lange mein Mitgebrachtes vorhielt, war der Herr Professor leidlich mit mir. Aber er und ich verstanden nicht hauszuhalten, und als sich nun zu der Kälte, die wir Beide gegeneinander hegten, noch Sorgen zugesellten, da waren wir elend, o wie elend! – Nun, es währte nicht lange, Sie wissen es, wir waren vernünftig genug, solch unseliges Band zu trennen! – Das lammfromme Gemüth einer Dora war mir vom Schicksal versagt; sie konnte sogar der Lebenden vergeben, ich haßte die Todte noch in ihrem Grabe! Wäre ich geliebt, heiß und innig, wie Molly, ich wäre nie geworden, was ich bin; auch ich hätte leben, athmen und vergehen können in einer einzigen großen Liebe! Aber unverstanden und ungeliebt irrte ich flatternd durch’s Leben, fried- und ruhelos! – Doch wohin sind wir gerathen!? – Fort mit so ernsten Gesprächen, vorbei ist vorbei! Noch leben wir, noch lassen Sie uns fröhlich sein! – Plaudern wir von Hamburg, mein Freund, von lustigen Geschichten. Erzählen Sie mir, wie’s dort beim Theater ist; plaudern wir von Allem, nur nicht davon, daß wir die Thorheit begehen – vergangene Dinge zu bereuen!“ –

Wie sehr sich aber auch Elisens kraftvoller Geist gegen das Unglück bäumte, endlich ward es doch größer, als sie selbst zu ertragen vermochte, und eines Tages blickte die Sonne auf eine Trostlose, die ihre Strahlen nicht mehr sehen konnte!

Was war alles Leid, alle Qual des verflossenen Lebens gegen diesen furchtbaren Schlag, dessen Wucht das Schicksal der armen sechzigjährigen Frau zur Grabesnacht machte!

„Doctor, Doctor! ist keine Rettung mehr, soll ich die Welt, die falsche, schöne Welt niemals mehr sehen?“ jammerte Elise verzweifelt.

Dr. Schott, ihr alter treuer Arzt, untersuchte die glanzlosen Augen; dann sprach er zögernd: „Die Möglichkeit einer Operation ist wohl noch vorhanden, aber es bedürfte dazu eines Aufenthalts in der Augenklinik zu C., und wo sollen wir die Mittel zu einem solchen auftreiben?“

„Nach C. soll ich? – Doctor, das hat Ihnen Gott eingegeben. – In C. ist ja meine liebe Amalie N…, es geht ihr dort brillant, sie wird gefeiert und vom Publicum auf den Händen getragen. Mir, mir ganz allein, meinen unausgesetzten Bemühungen, meinen glänzenden Kritiken hat sie den Ruf einer großen Künstlerin zu verdanken; o, sie wird glücklich sein, mich bei sich aufnehmen zu können! Doctor, lieber Doctor, ich bin so gut wie gerettet!“

„Gebe der Himmel, daß diese Hoffnung nicht trüge,“ murmelte kopfschüttelnd Doctor Schott, aber die freudig Erregte überhörte den zweifelnden Ton.

„Geh’ hinüber zu meinem Schüler,“ gebot Elise ihrer Dienerin, „bitte ihn zu mir zu kommen, ihm will ich den Brief an Amalie dictiren.“

Jener Schüler aber, der Einzige, welcher der armen, blinden Lehrerin Liebe und Verehrung zollte, war Hermann Hendrichs, der damals am Frankfurter Stadttheater seine künstlerische Laufbahn, die so glänzend werden sollte, begann.

Er kam, schrieb den Brief, den die Blinde als Nothschrei an die Freundin sandte. O, wie bat Elise so beredt um Aufnahme in Amaliens Haus, wie versuchte sie ihr Herz zu rühren, war dieser Brief doch die letzte Karte, auf welche sie ihre Hoffnung setzte! Sie begann auszurechnen, bis wann die Antwort der Freundin eintreffen könne, die Frist bis dahin verbrachte sie in fieberhafter Erregung.

Sie mußte lange warten, die arme, alte Frau! Die Aufregung drohte sie zu verzehren und machte sie so schwach und kraftlos, daß sie am Ende laut- und klaglos in dem großen Armsessel verblieb und nur zum Leben zu erwachen schien, wenn ein Tritt auf der Treppe erschallte – ach, der ersehnte Brief mußte doch endlich, endlich kommen!

Und er kam! – Nun lag es in den zitternden Händen, das zierliche Schreiben mit den lieben Schriftzügen, die Elise nicht mehr sehen konnte, bebend drückten es die Finger an das klopfende Herz. Wieder sollte Hendrichs der Uebermittler dieser Nachricht sein, denn die alte Dienerin verstand nichts von der edeln Lesekunst und in martervoller Unruhe harrte Elise des Jünglings.

Endlich saß der Ersehnte ihr gegenüber, das blühend schöne Leben dem erlöschenden Abend, und mit der Lebhaftigkeit der Jugend löste Hendrichs schnell das Siegel und wollte zu lesen beginnen.

Da aber überfiel mit einem Male die arme, alte Frau eine zitternde Angst, wie eine böse Ahnung mahnte sie’s, den Inhalt des Schreibens lieber noch nicht zu vernehmen, und abwehrend streckte sie ihre Hände aus. „Noch nicht, noch nicht!“ rief sie angstvoll. „Wenn Amalie nein sagte, wenn der letzte Strohhalm zerreißen würde, nach dem der Ertrinkende hascht! – O Gott, mein Gott, wie elend bin ich!“ – Eine heiße Thränenfluth brach aus den blinden Augen; es war der letzte Ausbruch eines viel gemarterten Herzens!

„Jetzt lesen Sie,“ sprach sie nach einer Weile mit ruhiger Stimme, „ich glaube, jetzt kann ich Alles ertragen!“

Der Brief begann: „Mit unendlichem Bedauern, meine theure Freundin –“ – Nun, was sollen wir hier jene herzlosen Zeilen wiedergeben, in denen ein undankbares Gemüth „untröstlich war“, gerade jetzt zu einem Gastspiel reisen zu müssen, gerade jetzt der alten Freundin auch für die kürzeste Zeit kein Asyl bieten zu können, gerade jetzt auch nicht die Mittel zu einer Cur in der Klinik selbst anbieten zu können.

Genug von dieser Herzlosen! ihr Gewissen wird sie gerichtet haben! – Beim Anhören des Briefes ward Elise todtenbleich, auf die milden Trostworte Hendrichs’ hatte sie keine Erwiderung; in dem alten Sessel saß sie da, zurückgelehnt, stumm und lautlos, sichtbar nach Luft ringend.

„Mein Himmel, wie soll, wie kann ich hier helfen?“ rief der Jüngling verzweifelt.

„Gehen Sie – eilen Sie – der Arzt – o – ich sterbe, das letzte Lebensband ist zerrissen!“

In fliegender Hast stürzte Hendrichs fort; als er mit dem Doctor zurückkehrte – bedurften Elisens Augen keines irdischen Lichtstrahls mehr, hatte das unruhig gehende Herz endlich Ruhe gefunden! –

Elise Bürger ward still und prunklos an einem sonnigen Herbsttage des Jahres 1832 begraben, wenige Getreue gaben ihr das letzte Geleit.

Ihren einzigen Schatz, jenes herrliche Album, hatte sie Hermann Hendrichs versprochen; er hat es nie erhalten und sprach noch kurz vor seinem plötzlichen Tode bedauernd darüber. Es ist unbekannt, in wessen Besitz das kostbare Buch gekommen ist.

Des einsamen Grabes auf dem Frankfurter Friedhof wird selten wohl gedacht. Möchte es dieser kleinen Skizze gelingen, das Andenken Elise Bürger’s von den Schlacken zu befreien, die Engherzigkeit und Vorurtheil ihm angeheftet haben – dann ist ihr Zweck erfüllt.




 Die „Nachsichtige“.

Dort kommt er schon, er wird mich grüßen –
Bleib’ ich nun hier am Fenster steh’n?
Tret’ ich zurück? Er könnte glauben,
Daß ich sein Nah’n nicht gern geseh’n.

Nicht gern! Kaum ahnt er, wie so wonnig
Sein Bild mir schon im Herzen ruht
Und all mein Denken, all mein Träumen
Mir Ein’s nur sagt: Du bist ihm gut.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_128.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)