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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Mein Bruder sagt,“ begann sie schüchtern, „es sei gefährlich, die Herren im Stifte zu reizen. Wenn Sie sie gereizt haben – o mein Gott, so kehren Sie doch nicht zu ihnen zurück! Bleiben Sie hier oder fliehen Sie! es kann Sie ja in’s Verderben bringen.“

Sie hatte keine Ahnung davon, daß die unbewußte Angst, welche sie auf einmal mit dem Gedanken seiner Gefahr überkam, sich auch in ihrer Stimme verrieth, daß sie dabei die Hand wie flehend auf seinen Arm gelegt; erst als die seinige diese Hand plötzlich umschloß, wollte sie zurückweichen, aber er gab sie nicht mehr frei.

„Schon zwei Mal habe ich heute die gleiche Warnung erhalten, die dritte und letzte kommt aus Ihrem Munde. Ich kann auch dieser letzten nicht folgen, ich kann nicht, Lucie! Aber – ich danke Ihnen!“

Das junge Mädchen schauerte leise zusammen unter diesen weichen bebenden Lauten, unter dem Klange ihres Namens, den sie zum ersten Male von diesen gefürchteten Lippen vernahm, sie hatte nicht den Muth, ihm die Hand zu entziehen.

„Herr Pater Benedict –“

Sie vollendete nicht, denn sie fühlte, wie seine Hand zuckte und die ihrige plötzlich fallen ließ.

„Pater Benedict!“ wiederholte er langsam. „Sie haben Recht, mein Fräulein, mich daran zu erinnern, wer ich bin. Ich stand im Begriff, es zu vergessen!“

„Heißen Sie denn nicht so?“ fragte Lucie betreten.

„Im Kloster, im Mönchsgewande – ja! Man läßt uns ja nicht einmal den Namen, der uns an die Zeit der Freiheit erinnern könnte! Auch ich habe den weltlichen Namen ‚Bruno‘ mit dem heiligen ‚Benedictus‘ vertauschen müssen, gesegnet ist dieser Tausch für mich nicht gewesen!“

Er schwieg plötzlich, auch Lucie wagte keine Erwiderung. Draußen jagten düstere Wolkenschatten vorüber und die Nebel legten sich dicht und dichter um das kleine Gotteshaus. Durch eines der offenen Kirchenfenster wehte der Luftzug herein und flüsterte leise in den welken Blättern der Todtenkränze, dunkler glühte das ewige Licht in der zunehmenden Dämmerung und warf seinen rothen Schein auf die Stufen des Altars, an dem die Beiden standen.

„Sie lieben das Kloster nicht?“ fragte Lucie endlich leise.

„Ich hasse es!“

Das junge Mädchen hob mit einem Anfluge von ihrem früheren Trotze das Haupt. „Und warum sagen Sie sich denn nicht los davon?“

Die dunkeln Augen des jungen Priesters hefteten sich fest auf ihr Antlitz, noch ahnte sie nicht, was diesen Blick so seltsam aufglühen machte.

„Würden Sie sich so leicht von einem Bande lossagen, an das ein Schwur Sie fesselt, oder einem Manne vertrauen, der es gethan? Würden Sie zum Beispiel diesem Manne hier am Altare Ihre Hand reichen für das Leben?“

Lucie schwieg, betroffen durch die seltsame Frage und mehr noch durch den Ton derselben. Es klang etwas daraus wie Todesangst, wie das athemlose Forschen eines Verurtheilten, der in einem einzigen Worte Begnadigung oder Verdammniß erwartet.

„Ich weiß nicht!“ stammelte sie endlich. „Ich –“

„Sie würden es nicht thun!“ ergänzte er, aber die Stimme war auf einmal matt und klanglos geworden. „Ich wußte es! Schrecken Sie doch nicht so vor mir zurück!“ fuhr er mit ausbrechender Heftigkeit fort, als sie in der That, erschreckt durch sein räthselhaftes Wesen, einen Schritt zurückwich. „Ich will ja diese Hand nicht an mich reißen! Dem Priester Roms ist ja ewig versagt, was den Dienern Ihrer Kirche gewährt wird. Der Altar, an dem sie frei und offen vor aller Welt ihr Weib empfangen, er steht auf ewig zwischen uns und jedem Lebensglück. Uns ist nur die Wahl gestellt zwischen Entsagung oder Verbrechen, und wenn man nicht entsagen kann und das Geliebte nicht entweihen will, dann bleibt nur Eines übrig – der Untergang!“

Regungslos stand Lucie vor ihm, entsetzt, betäubt von der Ahnung, die jetzt endlich in ihr aufdämmerte. Allmächtiger Gott, was war das? Sollten diese Worte ihr gelten?

Sie blieb nicht lange im Zweifel, der Strom hatte seine Ufer einmal gebrochen, und nun zwang ihn auch nichts mehr zurück in die alten Grenzen, aber selbst in diesem jähen Hervorbrechen eines mondenlang streng behüteten Geheimnisses war noch etwas von dem Zügel, den die Nähe des Altars und die Gewohnheit steter Beherrschung dem Priester auferlegte. Wie fest gewurzelt stand er auf seinem Platze, drei Schritte von ihr entfernt, und machte auch nicht den leisesten Versuch, sich ihr zu nähern.

„Ich habe Sie geliebt, Lucie, von dem ersten Moment an, wo Sie ahnungslos, wie ein jauchzendes Kind, an mir vorüberflogen. Was es war, das mich wie mit Naturgewalt gerade zu Ihnen zog, deren ganzes Sein und Wesen so fernab liegt von dem meinen, ich weiß es nicht, aber diese Liebe ist mir zum Verhängniß geworden. Ich habe dagegen gekämpft mit der ganzen Willenskraft des Mannes, mit der ganzen Gewissensangst des Priesters, ich bin davor geflohen bis in die fernste Einsamkeit, es war alles umsonst! wie ein Dämon hing sich diese Leidenschaft an jeden meiner Gedanken, stahl sie sich in jeden meiner Träume und wühlte jede Faser meines Innern auf, wenn ich scheinbar kalt und verschlossen meiner Umgebung gegenüberstand. Was ein Mensch nur ringen und streiten kann, das habe ich gethan, aber es giebt eine Grenze auch für die menschliche Willenskraft, und die meinige hat jetzt ihr Ende erreicht! Ich unterliege!“

Er wartete vergebens auf eine Antwort. Lucie hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen, die blendende Helle, welche auf einmal niederfloß, traf sie mit der ganzen schmerzenden Gewalt wie der erste Lichtstrahl den blind Gewesenen. Geliebt von diesem Manne! Ihr galten die Regungen dieser dämonischen Tiefe, die sich so jäh ihr und nur ihr allein entschleierte! Es war das zweite Mal in ihrem Leben, daß man es wagte, dem jungen Mädchen von Liebe zu sprechen. Einst hatte Graf Ottfried vor ihr auf den Knieen gelegen und um Erhörung gefleht, und während seine Schmeichelworte ihr Ohr betäubten und ihre kindische Eitelkeit in dem Triumphe schwelgte, tönte die rauschende Musik aus dem hell erleuchteten Ballsaal herüber, wo die Paare vorüberschwebten. Hier – rauschte nur der Wind in den Todtenkränzen und das ewige Licht glühte nieder auf die Beiden, die eben jener Ort für ewig trennte, der sonst zwei Menschen eint für das ganze Leben. Hier kniete Niemand vor ihr, aufrecht stand jene hohe Gestalt ihr gegenüber, und die dunkelglühende Leidenschaft, welche ihr entgegenfluthete, hatte nichts gemein mit den Tändeleien des Grafen. Schien es doch fast, als sei sie dem Hasse verwandt, als sei jedes dieser Worte, die dumpf und gepreßt von seinen Lippen kamen, nur dem innern Widerstreben abgerungen, das sich noch immer empörte gegen die „Naturgewalt“, die ihn zu ihr zog. Und doch wühlte es ihre ganze Seele auf bis in die tiefsten Tiefen. Ihr war, als sänke die ganze Vergangenheit hinab auf Nimmerwiederkehr und mit ihr auch das Kind, das bisher spielend Alles hingenommen, Alles weggelacht und weggescherzt hatte, als sei das ganze Leben nur eine sonnige Wiese, über die man hinwegtanzen könne, und was sich statt dessen vor ihr erhob, so ernst, so geheimnißvoll und feierlich, das war nicht jene Liebe, die sie sich geträumt, aber es nahm mit räthselhafter Gewalt ihr ganzes Wesen gefangen. Der Schatten, den jene dunkle Gestalt von jeher auf ihren Weg geworfen, gewann jetzt Form und Leben, sie wußte jetzt auch, weshalb sie diese Augen geflohen hatte und daß die Flucht umsonst gewesen war. – Es war todtenstill in dem düstern Raume, langsam verließ Benedict seinen Platz und trat an ihre Seite.

„Sie schweigen?“ sagte er ruhiger, aber tonlos. „Ich wußte es, daß mein Bekenntniß Ihnen nur Schrecken und Abscheu einflößen konnte, aber einmal mußte die Last herunter von der Brust! Vielleicht gehe ich nun leichter in die Entscheidung, die meiner wartet, und dem Verurteilten ist ja noch ein letztes freies Wort erlaubt. Ich habe Ihren Frieden gestört, aber glauben Sie mir, Lucie: was ich ertragen habe, ehe es so weit kam, ist wohl die paar Thränen werth, welche Ihnen diese Stunde kostet, die vielleicht schon morgen vergessen ist. Leben Sie wohl!“

Es schien, als wolle sich beim Abschied die frühere Weichheit noch einmal Bahn brechen, aber das Lebewohl überfluthete schon wieder die ganze Bitterkeit des Mannes, der sich unverstanden wähnte. Er wandte sich stürmisch ab und ließ sie allein. Aber mit seiner Entfernung löste sich auch der Bann, der das junge Mädchen regungslos gefesselt hielt, sie fuhr auf und machte eine Bewegung, ihm nachzueilen.

„Bruno!“


(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_172.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)