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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

wir allein und jetzt frage ich Sie, was meinten Sie mit Ihrem angstvollen ‚Dich nicht, Bernhard‘? Daß Sie ihn nicht für den Mörder halten konnten, weiß ich, Sie aber wissen mehr, Sie meinten irgend einen Anderen, ich hörte es an Ihrem Tone!“

Mit einer heftigen Bewegung machte sich Lucie frei, aber sie schwieg, die Lippen preßten sich nur fester zusammen und das Antlitz nahm wieder jenen Ausdruck an, dem man es ansah, daß sich ihm weder mit Güte noch mit Gewalt etwas abzwingen ließ. Franziska wartete vergebens auf einen Laut aus ihrem Munde.

„Kind, jetzt fange ich wirklich an, mich vor Ihnen zu fürchten!“ sagte sie ernst, „denn menschlich und natürlich ist dies Wesen nicht. Sie hören, daß man Ihren Bruder der That beschuldigt und ihn deswegen verhaftet, Sie wissen, daß seine Ehre, sein Leben auf dem Spiele steht, und schweigen, während ein Wort von Ihnen vielleicht Licht in die Sache bringen und ihn frei machen kann! Lucie, um Gotteswillen, was können Sie denn noch zu schonen oder zu verschweigen haben nach dieser letzten Viertelstunde?“

Es erfolgte auch jetzt keine Antwort, aber die letzte Mahnung schien doch tiefer gegangen zu sein. „Bernhard’s Leben?“ fragte Lucie leise mit halb erstickter Stimme, „Sie glauben, daß sein Leben in Gefahr ist?“

„Ich meine, daß die Gerichte gegen einen Mann von seiner Stellung nicht so vorgehen würden, wenn sie nicht dringende Verdachtsgründe hätten,“ Franziska war jetzt plötzlich ganz auf Seiten des vorhin so geschmähten Gerichtes, „und wenn sie verhaften, können sie auch verurtheilen. Bei einer Anklage auf Mord handelt es sich immer um Leben und Tod.“

Das junge Mädchen bebte wieder zusammen, wie vorhin bei dem Worte des Bruders. „Bernhard wird nicht verurtheilt werden!“ sagte sie tonlos, aber fest.

Franziska fuhr vom Stuhle auf. „Nicht? Und das wissen Sie mit solcher Bestimmtheit? Also können Sie ihn retten, Lucie, in’s Himmels Namen, sagen Sie mir nur das eine Wort, können Sie es?“

„Ich –“ hoffe es, wollte sie antworten, aber das Wort erstarb ihr auf den Lippen, hoffen konnte sie diese Rettung nicht. „Ich – will es versuchen!“

„Gott sei Dank!“ rief Franziska aufathmend. „Endlich ist das Eis gebrochen! Und nun vertrauen Sie sich mir an, Kind, was haben Sie vor?“

„Morgen! Heute kann ich nicht.“

„Aber –“

„Ich kann nicht!“ wiederholte Lucie entschieden und machte der Unterredung dadurch ein Ende, daß sie nach ihrem Zimmer schritt.

Franziska folgte ihr zwar, aber sie mußte bald genug einsehen, daß heute wirklich nichts mehr von dem jungen Mädchen zu erreichen war, sie gab endlich die nutzlosen Versuche auf.

Von Schlaf war bei den beiden Frauen in dieser Nacht nicht viel die Rede. Lucie hatte sich angekleidet niedergelegt, aber ihre Gefährtin sah nur zu gut, daß sie das Auge auch nicht einen Moment lang schloß. Franziska selbst ließ sich erst gegen Morgen von einem leichten Schlummer überraschen, zu ihrem Schaden, denn als sie erwachte, war ihre junge Pflegebefohlene von ihrer Seite verschwunden und im ganzen Zimmer nicht zu entdecken.

Erschreckt sprang die Erzieherin auf und eilte hinaus, aber dort traf sie bereits das ganze Haus in Aufruhr: die Nachricht von Günther’s Verhaftung, die gestern Abend noch verborgen geblieben, war heute in aller Frühe bereits durch den Briefboten aus E. nach Dobra gebracht worden und hatte dort leicht begreifliches Entsetzen erregt; Franziska hatte Mühe, sich in dem allgemeinen Durcheinander Luft zu einer Frage nach Lucie zu schaffen.

„Fräulein Lucie ist schon vor einer Stunde abgereist!“ erklärte das Mädchen, welches sie Beide bediente, „sie läßt aber das Fräulein bitten, sich nicht zu ängstigen, sie würde vor Abend wieder zurück sein.“

Franziska stand da wie vom Donner gerührt. „Abgereist! Wohin?“

Das Mädchen zuckte die Achseln. „Das weiß ich nicht! Wahrscheinlich weiß es nur der alte Joseph, der das Fräulein führt; sie hat Niemandem ein Wort davon gesagt.“

„Nun, das ist ja eine schöne Geschichte! Herr Günther vertraut sie ausdrücklich meinen Händen an, und jetzt geht sie mir heimlich auf und davon! Wo kann sie hin sein? Natürlich nur nach E. zum Bruder, um ihm mitzutheilen, was sie mir verschwieg. Und man wird sie nicht einmal zu ihm lassen! Konnte das thörichte Kind mich nicht mitnehmen? ich hätte mir den Weg in’s Gefängniß gebahnt, und wenn zwölf Landrichter und vierundzwanzig Gerichtsdiener davor Posto gefaßt hätten, um mir den Eingang zu wehren!“

Franziska wurde in ihrem zum Glück nicht laut geführten Selbstgespräch unterbrochen, denn von allen Seiten stürmten jetzt Fragen, Erkundigungen, Bitten auf sie ein. Die Beamten kamen mit schreckensbleichen Gesichtern, die Dienerschaft lief verstört und rathlos durcheinander, der ganze Haushalt schien aus den Fugen gegangen, da galt es energisch einzugreifen und den sämmtlichen Untergebenen zu zeigen, daß wenigstens noch eine leitende Hand da war, die Ordnung in das so plötzlich entstandene Chaos zu bringen wußte.

„Das Fräulein steht ihren Mann!“ sagte der unter Günther’s Leitung sehr tüchtige, aber nichts weniger als selbstständige Oberinspector, als er nach Verlauf einer Stunde von ihr zurück kam. „Die versteht sich auf’s Commandiren fast so gut, wie der Herr selber. Gott sei Dank, daß wir wenigstens noch Einen haben, der den Kopf nicht verliert. Wenn sie nicht wäre, ich glaube, es ginge jetzt in Dobra Alles drunter und drüber!“




Im Hochgebirge hatten die Stürme während der letzten Tage wieder mit verheerender Gewalt gewüthet. Ausgetretene Bergwasser, entwurzelte Bäume, niederstürzendes Felsgeröll hatten die Wege unpassirbar gemacht und die höher gelegenen Bergorte, wie N., gänzlich von der Ebene abgeschnitten. Die Verbindung damit war fast ganz abgebrochen, denn die Gebirgsbewohner, die allenfalls noch zu Fuße hinauf- oder heruntergelangen konnten, scheuten sich, ohne Noth den gefährlichen und mühseligen Weg zu machen.

Um so mehr wunderte sich der rüstig voransteigende Bauer, daß die junge Dame, welche ihm folgte, dies Wagniß unternehmen wollte. Sie war mit ihrem Wagen nur ungefähr bis zur Hälfte des Weges gekommen, da erwies sich die Weiterfahrt als unmöglich, aber vergebens bat sie der alte Kutscher mit Thränen in den Augen, zurückzubleiben, vergebens warnten die Dorfleute, sie hatte erklärt vorwärts zu müssen, nach N. hinauf zum Pfarrer Clemens, wie sie sagte, hatte einen der Männer durch das Anerbieten eines reichlichen Lohnes bewogen, ihren Führer zu machen, und setzte nun wirklich die Reise mit ihm zu Fuße fort.

Es war ein arger Weg, er zeigte überall noch die Verheerungen des Sturmes, der sich glücklicherweise während der Nacht gelegt hatte. Der Führer blickte sich oft genug besorgt um nach seiner schweigsamen Begleiterin, ob sie auch überhaupt zu folgen vermöge, woran er ernstlich zweifelte; freilich sie war jung und leichtfüßig, aber doch gar zu zart für solchen Gang und für solches Wetter, zudem waren ihre Schuhe so entsetzlich dünn und fein, jeder Tritt mußte sie ja schmerzen hier auf den scharfen Steinen, und der Regenmantel, der über die leichte Kleidung geworfen war, schützte sie auch nicht viel vor dem noch immer scharfen Bergwinde. Sie schien aber Beides nicht zu empfinden, sondern folgte unverdrossen, ohne Ausruhen und ohne Klage, als kenne sie weder Ermüdung noch Furcht.

Ungefähr eine Stunde lang waren sie so vorwärts gegangen und erreichten jetzt eine freiere Höhe. Zur Seite des Weges stand ein roh geschnitztes Heiligenbild, das auch dem Sturme zum Opfer gefallen war, das hölzerne Schutzdach war zertrümmert, das Bild selbst lag zerschmettert am Boden, nur der Pfahl, der es getragen, stand noch zur Hälfte aufrecht, von dem moosigen Felsstück gehalten, an das er sich lehnte. Unten am Abhange, nur einige hundert Schritte entfernt, lag ein einsames, armseliges Gehöft, das halb verdeckt durch die Tannen gänzlich öde und ausgestorben schien.

Auf der Höhe angelangt blieb das junge Mädchen plötzlich stehen und berührte den Arm ihres Begleiters.

„Wir müssen ausruhen! – Ich kann nicht weiter!“

Der Bauer sah sich um und erschrak, denn er gewahrte jetzt erst die tiefe tödtliche Erschöpfung in ihren Zügen und in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_203.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)