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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Schlafsaale bewacht hat. Wehe dem jetzt Säumigen, denn er wird in’s „schwarze Buch“ notirt. Und nun geht’s hinab in den Keller, um Hände und Gesicht in das zinnerne Waschbecken zu tauchen, welches nach dem Gebrauche sorgfältig gereinigt und ausgetrocknet werden muß. Dann versammelt man sich in den Arbeitszimmern, welche je neun Seminaristen in ihre kahlen Wände aufnehmen. Einer derselben hat schon den Ofen gereinigt, Feuer angezündet und die Stube mit Besen und Gemülleschaufel behandelt. Qualmende Oellampen erhellen die düstere Zelle, denn vor fünf Jahren hatten in M. die Meisten noch keine Ahnung von einer Gasanstalt.

Der Senior der Stube erhebt sich; um halb sechs Uhr früh wird das erste Mal gebetet und ein frommer Vers zur Stärkung für die Tagesarbeit gesungen. Besonders beliebt war als Morgendank: „Heut’, als die dunklen Schatten mich ganz umgeben hatten, hat Satan mein begehret; Gott aber hat’s gewehret.“ Und analog diesem lautete die Nachtbitte: „Will Satan mich verschlingen (wir gähnten immer recht sehr dabei), so laß die Englein singen: Dies Kind soll unverletzt sein!“ Beide Liedlein wurden auch stets von den Kindern der Seminarübungsschule mit „Furcht und Zittern“ im Herzen gesungen.[1] Nach dem Gebete wurde irgend eines der Lehrbücher vorgenommen, deren Unterrichtsstoff, mochte er sein, welcher er wollte, der unvermeidlichen Salbung unterzogen war. Kein Wort durfte gesprochen werden, denn mit Katzenschritten naht der Hülfslehrer, welcher die Frühinspection hat; er revidirt die vorliegenden Bücher und durchsucht sogar die Schubladen. Das Lehrbuch vor unseren Augen, welches auch nicht ein Jota mehr und in anderer Form enthält, als Herr v. Mühler für alle Seminaristen für gut befunden hatte, vermag uns nicht das geringste Interesse abzugewinnen, höchstens locken einige allem gesunden Menschenverstand und unbeeinflußter Lebensanschauung in’s Gesicht schlagende Sätze unser Hohnlächeln, wobei sich manchmal unwillkürlich die Faust unterm Tische ballt, heraus. Wir sind ja noch zu kurze Zeit im Seminar; wenn wir erst „ganz in Christo leben und die Zucht des heiligen Geistes empfinden“ werden, dann wird das Hohnlächeln schon aufhören, nur noch manche Augenblicke werden wir ohnmächtig und verzweifelnd an dem festen Gitter zu rütteln versuchen, hinter welches man unser Fühlen, Denken, Wollen und Handeln eingepfercht hat.

Endlich ist die Frühstücksstunde, acht Uhr, herangekommen. Der geräumige Speisesaal weist eine lange Tafel mit zinnernen Tellern und primitiven Bestecken auf; bestimmte Seminaristen holen die Schüsseln mit der Suppe vom Hauswart. Der unvermeidliche, beaufsichtigende Hülfslehrer faltet die Hände, um den Segen Gottes auf den Morgenimbiß herabzuflehen. Dieser ist auch sehr nöthig; die aufgezwungene Seminarkost ist zwar billig, für den Neuling aber ungenießbar. Allerhand Gewürm und Insecten sind mit verschimmelten Brodkrusten zusammengekocht und zuweilen mit den Ueberresten von Talglichtern angefettet. Da muß das väterliche Brod das Beste für die Sättigung des Körpers beitragen, und wohl denen, welche von den Eltern nahrhafte Brode und auch Butter bekommen, wiewohl ein Schulrath einst, gelegentlich einer Revision der Brodschränke, dem Besitzer frischer Gebirgsbutter entgegendonnerte: „Wie dürfen Sie sich dergleichen erlauben, ein Lehrer muß schon früh sparen (hungern!) lernen!“

Nach dem Genusse einiger Löffel sogenannter Suppe wird Gott im gedankenlosen Gebet für seine Gaben gedankt; uns war dieser Dank factisch nur eine privilegirte Gotteslästerung. Nachdem wir das dritte Mal gebetet, begeben sich bestimmte Seminaristen (der Reihe nach) zu den Seminarlehrern, um Botengänge für dieselben zu verrichten. Andere müssen im Keller das für den Küchengebrauch nöthige Wasser in das unter dem Dache befindliche Reservoir pumpen, „dreimal des Tages zweihundert Züge“. Dergleichen Arbeiten wären ein treffliches Erziehungsmittel zur christlichen Lebensgemeinschaft im Seminar gewesen, sie wurden nur dadurch erniedrigend, daß der Zweck derselben sich als eine Dienstverrichtung für den „Herrn Portier“ herausstellte, der über diese Kraftanstrengungen die Aufsicht führte. Derselbe war als Knecht in’s Militär eingetreten, hatte „auf Versorgung“ gedient und bekam eine Anstellung als Gefangenenaufseher in einem Zuchthause, von dieser wurde er zu der eines Seminar-Hauswarts befördert.

Bald ertönt wieder die bekannte Glocke, es folgt die Hauptmorgenandacht. Ein Bibelabschnitt wird vorgelesen; der Herr Director ermahnt uns, den „Unflath der Sünde am Fleisch“ abzuthun und uns unter „die Zuchtruthe des heiligen Geistes“ zu stellen, einige Regulativ-Lieder werden abgesungen, dann beginnen die Unterrichtsstunden, welche theilweise mit Gebet angefangen und beendet werden. (Fünftes und sechstes Gebet.)

Um zwölf Uhr wurde das schmale, oft widerlich zubereitete Mittagsbrod genossen und das siebente und achte Gebet gebetet. Die Stunde von ein bis zwei Uhr war Freizeit, in welcher es erlaubt war, ein Stück auf der Chaussee zu laufen, die der unvermeidlichen Controle wegen von den Seminarlehrern abpatrouillirt wurde. Es wären nun noch in dem stets sich gleichmäßig wiederholenden Tageslaufe Lehrstunden von zwei bis vier Uhr, Gartenarbeit von fünf bis sechs Uhr, Abendbrod um sieben Uhr mit zwei Gebeten (Nr. 8 und 9) zu erwähnen. Die grausigste Zeit war die abendliche Arbeitsstunde von acht bis neun Uhr, in welcher wir gewissermaßen die Bilanz des Tages ziehen konnten. Sie erwies, daß wir körperlich und geistig oft genug schamlos in den Staub getreten wurden, daß wir viel gebetet und wenig gelernt hatten, außer etwa neuen Gesichtspunkten für die Ertheilung des von „wahrhaft frommem Geist“ durchdrungenen Schulunterrichts. Als würdiger Tagesabschluß galt die große Abendandacht (unter günstigen Umständen nur das zehnte Gebet an einem Tage). Dann wurden wir vom Hülfslehrer und Hauswart in die Schlafsäle getrieben, deren Thür man hinter uns verschloß.

Werfen wir nun einen Blick auf die Leute, in deren Hand die Bildung der Lehrer lag. Der „Herr Director“ war, wie die meisten Leiter preußischer Seminare, Theologe von der Richtung Vilmar-Hengstenberg-Mühler. Ein Cultusminister in Duodez, war er äußerst vertraut auf einem Gebiete, das er Jugendsünden nannte. Noch nicht vierzig Jahre alt und ziemlich beleibt, versagten ihm die Wangenmuskeln schon den Dienst, und in Wülsten hing das Fleisch an denselben herunter. Die Augen, von großen Ringen umgeben, waren das einzig Lebendige an der großen schweren Gestalt, die von einem Rückenmarkleiden gekrümmt war. Gewöhnlich befand sich der „Herr Director“ in den Lehrstunden im Halbschlummer; nur die Hände zitterten nervös. So kam es, daß er einige Male vom Katheder herabfiel und regelmäßig beim Schlage der Uhr aufsprang mit den Worten: „Ach Gott, es schlägt man (!) schon wieder!“ und schleunigst das Zimmer verließ.

Und dieser Mann hat es vermocht, den Seminaristen auch die letzte Ahnung persönlicher und geistiger Freiheit zu rauben. Der Seminargarten war früher von einer lebendigen Hecke umgeben; Nachtigallen hatten sich dort eingenistet, und in dem Laubgange hinter dem Seminar konnte man die Spaziergänger gewahren. Sonntag Nachmittag sangen die Seminaristen im Garten Männerlieder; auch manchmal eines von der Freiheit und vom damals streng verpönten deutschen Vaterlande. Hinter den Sträuchern aber lauschten die Schönheiten von M., und manch freundliches Augenpaar suchte sich eine Lücke im Buschwerk, um einen mitleidigen Blick auf die Eingekerkerten zu werfen. Das war dem Herrn Director ein Dorn im Auge. Zahlreiche arme Zöglinge verloren aus Sparsamkeit der Seminarcasse ihre Freitische und das Cultusministerium, welches die Lehrer und ihre Wittwen darben ließ aus Mangel an Fonds, hatte sofort Geld bereit, um auch äußerlich eine Mauer um das Seminar zu bauen. Auch mußte dieselbe so hoch sein, daß ein ausgewachsener junger Mann ihren Rand nicht mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Nach dieser Heldenthat verbot der Herr Director den Besuch des unschuldigen kleinen Städtchens; selbst die Seminaristen,

  1. Wie widerlich die Frömmigkeit ist, die einem großen Theile des deutschen Volkes aufgedrungen werden sollte, mag ein kleines Geschichtchen aus dem „Münsterberger Lesebuche“, das mit allen der Regierung Mühler’s zustehenden Mitteln eingeführt wurde, beweisen: „Das Fieber, ein lieber Hausgast. Ein frommer Vater der alten Kirche, der alljährlich vom Fieber geplagt ward, nannte dieses Fieber seinen lieben Hausgast, der ihn jährlich an die Liebe Gottes erinnere. Und als es einst ausblieb, trauerte er darüber, daß sein lieber Hausgast ausgeblieben sei. Er fürchtete, Gott habe ihn nicht mehr so lieb, weil er ihm dies Jahr keinen Boten gesandt habe, ihn zu sich zu ziehen.“ Dieses Jugendbuch enthält zum großen Theil Geifereien aus den Blättern des „Rauhen Hauses“ von Dr. Wichern, schmutzige Redensarten u. dergl. Gott sei Dank lebt im deutschen Volke so viel Achtung vor dem Anstande, daß das Buch nach dem Rücktritte Mühler’s wohl bald ausgemerzt sein wird.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_244.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)