Seite:Die Gartenlaube (1872) 245.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

deren Eltern in M. wohnten, durften ihre kindlichen Pflichten nur einmal in der Woche nach eingeholter specieller Erlaubniß ausüben. Der Umgang mit Familien der Stadt war untersagt; sogar die Handwerker und Kaufleute, bei denen wir arbeiten lassen und kaufen mußten, waren genau bestimmt.

Das M.’sche Seminar galt als ein mustergültiges; die Directoren und Lehrer wurden immer sehr schnell zu Schulräthen nach anderen Provinzen beordert, um auch dort das neue dunkle Evangelium zu verkünden. Sogar der frühere Augapfel deutscher Bestrebungen blieb von diesen schwarzen Sendboten nicht verschont: Schleswig-Holstein wurde zu allernächst mit Regulativlehrern bedacht.

Der „Herr Seminardirector“ hatte es verstanden, das Wort des preußischen Regulativs auf seine Weise zur Geltung zu bringen. „Daß sich das ganze Leben im Seminar unter die Zucht des Wortes und Geistes (welches Geistes?) stellt, daß aus der Fülle der Gnadenmittel von Lehrern und Schülern fleißig und treu geschöpft, im Ganzen eine evangelisch-christliche Lebensgemeinschaft dargestellt werden. Wie trefflich wiederholte er uns Sonntags in der Seminarandacht stets, wie verworfen wir wären; wir wanden uns wie ein wehrloses Insect an der Nadel unter seinen Worten, die wir Montags noch dazu selbst wiedergeben mußten.

Unter den Strafen war die Aufnahme eines Protokolls über irgend ein Verbrechen, z. B. den Besuch eines Gasthauses, die beliebteste. War der Seminarist so verstockt, daß er in dem Trinken eines Glases Bier nach einem Spaziergange noch kein Verbrechen finden konnte, und leistete er dem Seminardirector nicht demüthige Abbitte, so erfolgte nie mehr eine restitutio in integrum; der Sünder wurde z. B. mit folgendem Abgangszeugnisse den Stadt- und Landgemeinden empfohlen: „Während seiner Seminarzeit hat er wegen gröblicher Uebertretung der Anstaltsordnungen ein Strafprotokoll unterschreiben müssen. Den Beruf eines christlichen Lehrers nach Gottes Wort und Gebot zu verstehen, wird er sich als Aufgabe für sein ferneres Lehen unverrückbar vorzustellen haben; nur dann, wenn er sich unter die Zucht des heiligen Geistes beugen gelernt und für seinen Beruf an innerer Wärme gewonnen haben wird, kann er hoffen, die Kraft Gottes zur Erziehung der Jugend an sich zu erfahren. Durch sein Verhalten vermochte er nicht, sich das Vertrauen seiner Lehrer zu erwerben.“ Letzteres ließ sich sehr oft dadurch thun, daß man den Angeber abgab; nur durch das Mißtrauen der Seminaristen unter sich war es überhaupt möglich, daß sich achtzig zusammenwohnende junge Leute mit theilweise vorzüglichen Anlagen in dem naturgemäß frischen, kräftigen, strebenden Alter von siebenzehn bis zwanzig Jahren derartig nichtswürdig behandeln ließen. Aufrichtige, hingebende Freundschaft war eine äußerste Seltenheit.

Der „Herr Director“ machte ein erbauliches, sonntägliches Bibellesen zur gesetzlichen Pflicht. Nie ist wohl das Buch, das Juden und Christen das heilige nennen, so entsetzlich profanirt worden wie bei dieser vom Director überwachten Schriftfütterung. Außerdem waren wir gezwungen, wöchentlich einige Missionsschriften, namentlich die Blätter des „Rauhen Hauses“, zu studiren. Sonnabend Abend wurde von einem Seminaristen ein halbstündiger Missionsvortrag nach irgend einer Missionsschrift gehalten.

Die armen Seminaristen waren genöthigt, monatlich einen Missionsbeitrag abzuliefern; dafür erhielt der Herr Seminardirector manchmal ein Lesezeichen, gefertigt von einem langzöpfigen, getauften Chinesenkinde, oder eine Fischgräte, an der ein frommer Eskimo erstickt war. Ganz natürlich, daß einige „fromme Jünglinge“ sich äußerlich vollständig den Maßnahmen des Seminardirectors anzupassen wußten; diese waren die „Frommen im Lande“, die „Starken in Israel“, wie sich der Leiter des christlichen Hauses stets alttestamentarisch ausdrückte. Sie erhielten reichliche Stipendien und oft ungerechter Weise auch die besten Abgangszeugnisse.

Unter den übrigen Seminarlehrern war nur ein einziger, der unsere Achtung und Liebe genoß, wiewohl auch er nichts that und thun konnte, um unsere traurige Lage zu verbessern. Eine Aeußerung, welche sowohl den Seminarlehrer, als auch unsere Schulverhältnisse charakterisirt, mag hier folgen. In der Nähe der Stadt M. hatte ein Lehrer eine äußerst gering dotirte Stellung und mußte durch den Betrieb des Ackerbaues sein Leben fristen. Die Erzeugnisse des Feldes brachte er, wie ein echter Bauer bekleidet, mit einer kurzen Pfeife auf dem mit Kühen bespannten Wagen sitzend, selbst auf den Markt. Dieser Anblick ärgerte den Herrn Seminardirector nicht wenig, indem er den Mann eine Schande für den Lehrerstand nannte, da er auch die Schule über seinem Nebengeschäfte vernachlässige. „Was wollen Sie?“ bemerkte der eben erwähnte Seminarlehrer. „Für sein Gehalt thut der Mann noch viel zu viel für die Schule.“

Der jüngste Lehrer an der Anstalt übte trotz seiner Unfähigkeit einen ungemein großen, ungünstigen Einfluß auf uns aus, so daß wir z. B. stets unwillkürlich nach seinem Fenster blickten, an dem er diejenigen notirte, welche die Freizeit zu einem kleinen Spaziergange benutzt hatten. Diese Verbrecher beehrte er mit dem Namen Bummler und ließ sie in seinen Lehrstunden ihr kühnes Unterfangen reichlich entgelten. Ihm war die Pflege der deutschen Sprache, Literatur und Geschichte anvertraut. Deutsche Literatur in einem Seminar! Ohne jede Reflexion können wir constatiren, daß der bezügliche Regulativsatz stricte befolgt wurde: „Ausgeschlossen muß die sogenannte classische Literatur (sic!) bleiben; dagegen findet Aufnahme, was nach Inhalt und Tendenz kirchliches Leben, christliche Sitte, Patriotismus und sinnige Betrachtung der Natur – zu fördern geeignet ist. Im Allgemeinen wird sie sich (die Auswahl von literarischen Erzeugnissen) überall zweckmäßig innerhalb der Lebensbeschreibungen Luther’s von M…[1] und W…, Melanchthon und Valerius Herberger, Paul Gerhardt und Jacob Spener von W…, Oberlin von Sch…, des evangelischen Jahrbuchs von P…, des Beiblatts zu den fliegenden Blätter des Rauhen Hauses u. s. w. treffen lassen.“ – – Das Seminar besaß auch einige bessere Werke; mit diesen ging es uns jedoch, wie Luther mit der Bibel im Kloster; sie waren an Ketten angeschlossen. Unsere historischen Studien bestanden einzig und allein in frommen Zerrbildern aus der preußischen Geschichte, für die ein von dem betreffenden Seminarlehrer mühsam zusammengestoppeltes Plagiat maßgebend war. Keiner unserer Lehrer hat den Muth gehabt, das Bewußtsein des mit allem Fühlen unseres Herzens verbundenen einigen Deutschlands in uns wach zu halten; und doch sonnen und brüsten sich diese Creaturen jetzt wohlgefällig im Glanze des neuhergestellten Vaterlands. Nicht der finstere, engherzige Geist der Regulative hat unsere Heere beseelt, sondern trotz desselben hat die gesunde deutsche Volkskraft die herrlichen Siege erfochten.

Bei all den vielen Arbeitsstunden von Morgens fünf Uhr bis Abends neun Uhr durfte im Seminar mit zwanzigjährigen jungen Leuten nicht das geleistet werden, was eine gute städtische Schule mit zwolfjährigen Kindern erzielt. So bilden z. B. „das eigentliche Gebiet des Seminarunterrichts die vier Grundrechnungsarten in ganzen, gebrochenen und benannten Zahlen.“ Eine weitere Ausbildung kann ausnahmsweise gestattet werden, „etwa bis zu den Decimalbrüchen“, was bei anderen, „sittlichen Inhalt habenden Disciplinen nicht zulässig ist“, wie äußerst naiv die Regulative bemerken. Unter letzteren versteht man auch Physik, Naturgeschichte und mathematische Geographie, für welche „religiöse Richtung und Haltung nothwendige Bedingung ist“. Denn es giebt böse Menschen, welche die Wissenschaft nicht nach der Bibel verdrehen wollen, wie Copernicus, Laplace, Darwin etc. Selbstständige Weiterbildung war streng untersagt; allwöchentlich stellte der Seminardirector eine Jagd nach solchen Büchern in unsern Schränken an, welche den Regulativen keinen Tribut abgestattet hatten. –

So waren wir drei Jahre eingeschlossen und abgesondert

  1. Es wäre ungerechtfertigt, dergleichen dunkle Namen an dieser Stelle anzuführen. Dagegen dürfen wir nicht verschweigen, daß uns Namen von Reformatoren der Pädagogik, wie v. Rochow, Dinter, Diesterweg nie, selbst nicht im absprechenden Sinne, zu Ohren gekommen sind. Die Ursache dafür finden wir bestimmt ausgesprochen in der Schulkunde von Bormann, welche in den Regulativ-Seminaren benutzt werden mußte. Nachdem Rousseau, Basedow, Campe, Salzmann abgeurtheilt worden sind, endet der Artikel über Pestalozzi, welcher füglich nicht übergangen werden konnte, folgendermaßen: „Aber ebensowenig darf verhehlt werden, daß in dem von Pestalozzi gewiesenen Unterrichtsverfahren die religiöse Erziehung hinter der Bildung der geistigen Kraft überhaupt zurücktritt, und daß also dadurch der Irrthum erzeugt ward, es bestehe das Ziel der Erziehung darin, daß alle in dem Menschen vorhandenen Anlagen so viel als möglich entfaltet werden, während es doch nur darin zu suchen ist, daß alle Kräfte sich in den Dienst Christi stellen und dadurch geheiligt werden.“
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_245.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)